Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
Arbeitsstelle ließen mich ernsthaft an einer Tätigkeit in meinem Beruf zweifeln. Auch nach sieben Tagen Praxis in Stawropol hatten sich diese Zweifel nicht gelegt. Ich beschloss, der Staatsanwaltschaft den Rücken zu kehren.
Ich nahm Kontakt mit dem Regionskomitee des Komsomol auf, traf Bekannte, die mich von früher kannten, und teilte ihnen meine Zweifel mit. Das Abzeichen der Moskauer Universität und der Bericht von meiner gesellschaftlichen Tätigkeit an der Juristischen Fakultät verfehlten ihre Wirkung nicht. Ich wurde zu einem Gespräch mit Viktor Mironenko eingeladen, dem Ersten Sekretär des Regionskomitees des Komsomol. Wir lernten uns kennen, unterhielten uns, und ich nahm das Angebot an, zum Komsomol zu wechseln und beim Regionskomitee die Stelle des stellvertretenden Leiters der Abteilung Agitation und Propaganda anzutreten.
Damit schien alles zu meiner Zufriedenheit entschieden zu sein – aber nur auf den ersten Blick. Als frischer Universitätsabsolvent war ich verpflichtet, an den Ort zu gehen, der mir zugeteilt worden war und die Arbeit dort auftragsgemäß auszuführen. Ich musste mich also noch mit der Staatsanwaltschaft der Region auseinandersetzen. Das wurde dadurch erleichtert, dass Mironenko meinen Wechsel zum Komsomol mit dem Regionskomitee der Partei absprach. Aber ich wollte den Staatsanwalt der Region nicht übergehen und bat um einen Termin bei ihm. Wasilij Nikolajewitsch Petuchow hatte große Autorität und galt als äußerst selbständiger und prinzipientreuer Mann.
»Sie haben das Recht, darüber zu entscheiden, ob Sie mich ziehen lassen oder nicht. Aber ich bitte Sie, mir entgegenzukommen.« Mit diesen Worten schloss ich mein Plädoyer beim Regionsstaatsanwalt.
Noch am selben Tag schrieb ich Raissa über dieses unangenehme Gespräch. Und im nächsten Brief am folgenden Tag schrieb ich: »Ich habe noch ein Gespräch über mich ergehen lassen, mir harte Worte gefallen lassen müssen und das Einverständnis erhalten, zum Regionskomitee des Komsomol wechseln zu dürfen!«
Jahrzehnte später, schon in den achtziger Jahren, erhielt ich von Petuchow zwei von ihm verfasste Bücher mit persönlicher Widmung und einen Brief, in dem er schrieb: »Heute denke ich mit größter Zufriedenheit daran, dass ich damals recht daran tat, mich Ihrem Lebensweg nicht entgegenzustellen.«
Was eine Stelle für Raissa betraf, zog sich das hin, obwohl es in der ganzen Region nur zwei Personen gab, die einen Universitätsabschluss in Philosophie hatten. Die Philosophie wurde von Historikern unterrichtet, und in der ersten Zeit musste Raissa in der Abteilung für Ausländische Literatur der Regionsbibliothek arbeiten.
Zu meiner Tätigkeit gehörten regelmäßige Reisen in die Bezirke der Region. Doch es nahm unendlich viel Zeit in Anspruch, in die jeweiligen Dörfer zu kommen, um mich mit den Komsomol-Aktivisten vor Ort zu treffen. Man hatte die Wahl zwischen zwei Fortbewegungsmöglichkeiten: per Anhalter mit einem Lastwagen oder zu Fuß. In den Dörfern gab es nicht einmal Gasthäuser, geschweige denn Hotels. Die Komsomolzen mussten Übernachtungsplätze bei Privatleuten besorgen. Und ganz katastrophal war es mit dem Essen: Selbst wenn man Geld hatte, es gab nirgends etwas zu essen.
Zehn Jahre nach Kriegsende lebten die Menschen in bitterer Armut. Ein Teil der Jugendlichen war nicht dazu bereit, sich damit abzufinden, und machte sich auf den Weg: zum Bau von Elektrokraftwerken, Betrieben, Eisenbahnen, Kanälen. Aber die meisten konnten nicht weg. Sie mussten ausharren, mit den Schwierigkeiten fertigwerden und auf Änderungen hoffen.
Das erste Dorf, zu dem ich im November 1955 reiste, war Gorkaja Balka im Bezirk Woronzowo-Alexandrowskij. Es erstreckte sich über 20 Kilometer durch eine Schlucht am Fluss entlang. Es gab praktisch keine Steinhäuser, keine Dächer aus Ziegeln oder Eisen; nur mit Schilf gedeckte Lehmkaten. Am Morgen des zweiten Tages fuhr ich mit einem einheimischen Komsomol-Mitarbeiter zu einer Viehfarm. Als wir auf den Hügel stiegen, sah ich die chaotisch wie Würfel hingeworfenen Katen, aus denen Rauch aufstieg. Eine erstarrte, kalte Welt. Die Stille wurde nur von Hundegebell durchbrochen. Ich fragte meinen Begleiter: »Und wo treffen sich die Jugendlichen? Gibt es in diesem Dorf so etwas wie einen Dorfclub?«
»Nein. Es gibt eine Kate, die leersteht. Da führen wir unsere Versammlungen durch. Manchmal treffen sich auch die Jugendlichen dort. Aber meistens treffen sich die Jungen
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