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Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)

Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)

Titel: Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Gorbatschow
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Rudenko und ich »verteidigten den Sozialismus«, versuchten zu beweisen, dass gerade der Sozialismus den ganzen Reichtum des geistigen Erbes der Menschheit hütet, dass er Millionen Menschen den Weg zur Kultur gewiesen hat. Wir führten eine Menge anderer Argumente an, von deren Wahrheit wir wirklich überzeugt waren. Der Saal lauschte mit großer Spannung. Unser »Gegner« war nicht sehr erfahren in öffentlichen Diskussionen, wusste aufgrund seiner Jugend vieles nicht und konnte es wegen der Abgeschlossenheit des Landes und der totalen Kontrolle durch die Partei auch gar nicht wissen. Also trugen wir den »Sieg« davon.
    Am meisten Angst hatte ich damals davor, man würde den Diskussionsclub, an dem uns so viel lag, schließen. Für die kritische Stadtjugend war unser Club ein Lieblingstreffpunkt. Ähnliche Diskussionen wurden in Studenten- und Betriebsgruppen veranstaltet. Wir erweiterten den Kreis der Diskussionspunkte. Formal hatte der Komsomol nicht die Befugnisse dazu, aber wir folgten damit unserem Verständnis von gesellschaftlicher Verantwortung. Obwohl das Parteiauge Tag und Nacht beobachtete, was unter der Jugend vor sich ging und was die Komsomol-Komitees taten, suchten und fanden wir Wege, uns durchzusetzen.
    Das Neujahrsfest des Jahres 1957 feierten Raissa und ich zu Hause. Das Komsomol-Stadtkomitee hatte zusammen mit der Abteilung für Volksbildung etliche Festabende, Konzerte und Feiern veranstaltet. Wir warteten mit Ungeduld und Angst auf die Geburt des Kindes, sie stand unmittelbar bevor. Am 5 . Januar besuchten wir unsere Bekannten, und die Wehen setzten ein … Nach einem mehrtägigen Aufenthalt Raissas in der Entbindungsklinik brachte ich ihr Blumen und wollte sie mit unserer Tochter nach Hause holen. Ich war glücklich: Jetzt waren wir eine Familie. Aber wie glücklich Raissa erst war! Unsere Ängste, ob alles gutgehen würde, waren vergessen. Ein neues Leben begann, neue Sorgen kamen, wobei etliche damit zusammenhingen, dass wir nicht auf dieses neue Leben vorbereitet waren.
    Ich bat meine Mutter, für ein paar Tage zu uns zu kommen. Ich weiß noch, wie sie unsere Tochter zum ersten Mal badete. Wir fanden, Großmutter war zu ruppig, und beide, besonders Raissa, liefen wir aufgeregt um die Wanne herum. Obwohl doch klar war, dass wir die Frau, die wusste, wie man es macht, nicht hätten stören sollen. Nach einer Woche fuhr Mutter wieder nach Priwolnoje.
    Raissa und meine Mutter mit Irina, 1957
    Raissa musste bald wieder arbeiten. Allein von meinem Gehalt konnten wir nicht leben. Wir mussten dringend eine Kinderfrau finden. Mithilfe von Bekannten fanden wir auch eine in einem Dorf vor der Stadt. Raissa hatte es entsetzlich schwer! Sie musste mitten am Tag nach Hause rennen, um zu stillen, und Milch für die nächsten Male dalassen. Kindernahrung war nicht aufzutreiben. Alles musste selbst gemacht werden. Es mangelte an allem, wir litten richtig Not.
    Meine Komsomol-Kollegen, die unsere Sorgen kannten, setzten sich bei den Behörden vehement dafür ein, dass uns Wohnraum zur Verfügung gestellt wurde. Und so bekamen wir bald zwei kleine Zimmer im sogenannten »Wohn- und Verwaltungshaus«. Es hieß so, weil die beiden oberen Etagen zum Wohnen bestimmt waren und für die damalige Zeit auch wirklich gute Wohnungen mit allem Komfort hatten; im Erdgeschoss sollten verschiedene Büros untergebracht werden. Da die Stadt aber zu wenig Wohnraum hatte, verwandelte man das Erdgeschoss in eine riesige Gemeinschaftswohnung mit neun Zimmern sowie Küche und Toilette, die von allen Bewohnern benutzt wurden.
    Moskauer, Einwohner anderer Großstädte und nicht nur diese kennen das Leben in einer Gemeinschaftswohnung nur allzu gut. In unserer Gemeinschaftswohnung wohnten: ein Gasschweißer, ein Oberst a.D., und der Mechaniker einer Bekleidungsfabrik mit ihren Familien, ferner ein unverheirateter Alkoholiker mit seiner Mutter sowie vier alleinstehende Frauen; jeder hatte ein anderes Leben. So eine Gemeinschaftswohnung ist eine einzigartige Welt, wo alles anzutreffen ist: Nervosität, ja Wut wegen der Enge und Unbehaustheit und dann wieder echte gegenseitige Hilfe. Der sowjetische Kollektivismus in Reinkultur: Man freundet sich an, streitet, verkracht sich und verträgt sich wieder, feiert zusammen Geburtstage und Feste, trifft sich oft abends und spielt Domino.
    Drei Jahre wohnten wir da. Dann bekamen wir eine eigene 38  Quadratmeter große Zweizimmerwohnung mit einer Küche von 12  Quadratmetern und mit Bad,

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