Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
Bestarbeitern nachzutun. Larionow wurde der Titel »Held der Sozialistischen Arbeit« verliehen. Der Betrug flog bald auf. Larionow erschoss sich, Lebedew wurde im Januar 1960 seines Amtes als Sekretär des Stawropoler Regionskomitees enthoben und in Pension geschickt, er war 52 Jahre alt. Ein ungeheuerliches Faktum: Lebedew wurde in diesen etwas mehr als drei Jahren mit drei Leninorden ausgezeichnet und wegen gravierender Fehler seines Amtes enthoben. Was die »Fleischkampagne« betrifft, hat sie unserem Land einen solchen Schlag versetzt, dass es sich bis in die jüngste Zeit nicht von den Folgen hat erholen können.
Für Lebedew kam Beljajew, vorher Mitglied des ZK der KPDSU und Erster Sekretär des ZK der Kommunistischen Partei Kasachstans. Er kam nach den dramatischen Ereignissen von Temirtau zu uns, wo gegen die unzufriedenen aufständischen Arbeiter Truppen und Panzer eingesetzt worden waren. Beljajew war gleichsam zu uns »verbannt« worden. Er wirkte völlig verstört und angeschlagen und verließ schon ein halbes Jahr später Stawropol. An die Stelle des Ersten Sekretärs des Partei-Regionskomitees trat Fjodor Dawydowitsch Kulakow, vorher Minister für Getreideprodukte der Russischen Föderation.
Wie viele andere so teilte auch ich die Erwartungen, die nach dem 20 . Parteitag in unserer Gesellschaft erwacht waren, und sah sie als neue Lebenschance für meine Altersgenossen und mich. Stattdessen musste ich erkennen, dass die Änderungen großen Schwierigkeiten begegneten, inkonsequent und impulsiv waren.
Mit Fjodor Kulakows Ankunft wurde die Situation im Stawropoler Land besser. Die Änderungen wirkten sich auch auf mich aus.
Kiew und Moskau
Im Jahr 1961 mussten wir noch eine schmerzliche Frage in unserer Familie lösen. Raissa wurde zu einer Umschulung für Lehrer der Gesellschaftswissenschaften nach Kiew geschickt. Ihre Situation hatte sich inzwischen stabilisiert. Sie arbeitete am Lehrstuhl für Marxismus-Leninismus des Landwirtschaftsinstituts und hatte einen guten Ruf als Lehrerin. Aber es wurde Zeit, dass sie sich fortbildete. Die anderen Lehrer hatten die Kiewer Kurse schon absolviert. Unsere Tochter war vier Jahre alt. Raissa wollte sie nicht zurücklassen, aber alle Erklärungen und Argumente halfen nicht. Sie musste hinfahren. Unsere Tochter brachten wir für ein paar Monate zu Großmutter Maria nach Priwolnoje.
Raissa und Irina, 1961
Aus Kiew bat mich Raissa ständig, unsere Tochter möglichst häufig zu besuchen. Aber das klappte nicht immer. Als ich einmal zu meinen Eltern fuhr, hatte Irina gerade Windpocken. Der Ausschlag bedeckte ihr ganzes Gesicht. Ich war erschüttert. Raissa schrieb ich nichts davon, obwohl ich es hätte tun müssen. Doch ein wenig später fuhr ich wieder nach Priwolnoje und konnte mich davon überzeugen, dass offenbar alles ausgestanden war.
Jahre später erfuhren wir, dass man Irina, als sie längere Zeit bei Großmutter und Großvater in Priwolnoje war, heimlich getauft hatte. Warum heimlich? Weil Kommunisten die Teilnahme an religiösen Ritualen wie Taufe oder Trauung sowie die Teilnahme an der Messe bei Geburt und Beerdigungen untersagt war. Das war ein Grund für den Parteiausschluss. Aber das Volk kümmerte sich nicht darum und pflegte seine Traditionen.
Im selben Jahr fand der 22 . Parteitag statt. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich zum Delegierten des Parteitags gewählt worden. Ich bat Kulakow, zwei Tage früher zum Parteitag aufbrechen zu dürfen, um mich in Kiew mit meiner Frau treffen zu können, die ich schon mehrere Monate nicht gesehen hatte. Er erlaubte es. Ich fuhr zum ersten Mal nach Kiew. Es war Mitte Oktober, die warmen Tage des »goldenen« Herbstes.
Nach meiner Ankunft suchte ich erst ein Hotel und dann Raissa. Sie war beim Unterricht, obwohl sie von meiner Ankunft wusste. Wir trafen uns. Ich hatte damit gerechnet, dass wir drei Tage zusammen im Hotel verbringen können. Weit gefehlt! Die Sowjetmacht war stark! Sie kontrollierte alles und jeden, vom Kindergarten und Hotel bis zu den Deputierten und Mitgliedern des ZK . Da Raissa für eine bestimmte Zeit in Kiew angemeldet war, durfte sie nicht mit mir im Hotel wohnen. Ich protestierte, sagte, wer ich sei, dass ich zum Parteitag führe und unterwegs meine Frau besuchen wolle, die hier einen Fortbildungskurs mache. Ich weiß nicht, vielleicht wollten sie ein Bestechungsgeld. Heute bin ich sicher, dass dem so war. Aber damals kam ich gar nicht auf die Idee. Ich löste die Frage, indem
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