Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
ich Jurij Jeltschenko, den Ersten Sekretär des ZK des Komsomol, einschaltete.
Raissa zog in das Zimmer um, in dem ich wohnte, und wir verbrachten drei glückliche Tage. Wir hatten den Eindruck, wir hätten uns ein halbes Leben nicht mehr gesehen. Wir flanierten über den Kreschatik-Boulevard, gingen auf den Wladimir-Hügel, weideten uns am Dnepr und besuchten das Haus, in dem die Universität Raissa einquartiert hatte. Natürlich sprachen wir in diesen Tagen viel über Irina. Ich musste Raissa sagen, dass Irina die Windpocken gehabt hatte und jetzt wieder gesund war. Meine Frau war zuerst beleidigt, aber ich überzeugte sie davon, dass ich recht hatte, indem ich sie fest umarmte. Das war mein Hauptargument, und auf Frauen wirkt das stärker als alle Argumente.
Raissa erzählte mir von ihren Kursen. »Hier ist viel los … Viele sind nicht zum ersten Mal hier. Sie kennen sich inzwischen untereinander und warten auf ihre nächste Fortbildungsreise. Sechs Monate lang ein ›freies Leben‹ ohne Kinder und Ehepartner.«
Schließlich fuhr ich nach Moskau zum 22 . Parteitag der KPDSU . Zentraler Tagesordnungspunkt des Parteitags war die Kritik des Personenkultes. Der Parteitag sollte Chruschtschows auf dem 20 . Parteitag unternommenen Schritte billigen und die Linie dieses Parteitags fortsetzen, aber irgendetwas beunruhigte alle. Wieder erklangen Lobeshymnen auf das Oberhaupt, besonders bei der Diskussion des neuen Parteiprogramms.
Etliche im Land und in der Partei bekannte Leute wetteiferten buchstäblich darum, Chruschtschow in den Himmel zu heben. Achundow, der Erste Sekretär des ZK der KPDSU Aserbaidschans, verglich Chruschtschows Referat mit dem Klang einer »machtvollen Sinfonie«. Raschidow, der Erste Sekretär des ZK der KPDSU Usbekistans, nannte Chruschtschow »einen herausragenden Leninisten, einen großartigen Kenner der tieferliegenden Lebensprozesse und leidenschaftlichen Streiter für den Frieden«. Und was taten wir, die Delegierten? – Klatschten Beifall; obwohl sich viele dabei unwohl fühlten.
Das menschliche Gedächtnis ist launisch, besonders wenn die Massenmedien es manipulieren. Alle erinnern sich an die »Mais-Aktion« [11] oder daran, wie Chruschtschow in der UNO -Generalversammlung mit dem Schuh auf den Tisch klopfte. [12] Und besonders oft erinnert man sich an Chruschtschows Konflikt mit den Künstlern in der Manege. [13] Aber die Geschichte wird nie Chruschtschows Entlarvung von »Stalins Personenkult« vergessen. Natürlich kann man das Problem des Totalitarismus nicht allein auf äußere Umstände und den üblen Charakter des Diktators zurückführen, wie Chruschtschow das tat; damit macht man sich die Sache, auch wenn es wirksam ist, zu leicht. Die wahren Wurzeln dieses Phänomens werden dadurch nicht aufgedeckt.
Für die Geschichte und die große Politik aber hatten die Auswirkungen von Chruschtschows politischem Handeln eine enorme Bedeutung. Die Kritik an Stalin, der das Regime verkörperte, zeigte nicht nur den ernsten Zustand unserer Gesellschaft insgesamt, den pervertierten Charakter des politischen Kampfes, der in ihr ausgefochten wurde, sondern auch das völlige Fehlen elementarer Gesetzlichkeit. Diese Kritik brachte den totalitären Charakter des Sowjetsystems in Misskredit, löste Hoffnungen auf Reformen aus, gab Anstoß zu neuen Entwicklungen in Politik und Wirtschaft wie auch im Geistesleben. Das ist das eigentliche Verdienst von Chruschtschow und denen, die ihn unterstützten. Er wollte sich nicht in die Analyse der Ursachen des Totalitarismus vertiefen und hätte das wohl auch nicht gekonnt, da es die Überwindung von Dogmen erfordert hätte, die für ihn Glaubenssache waren.
Und doch hätte Chruschtschow meinen Beobachtungen nach entschieden weiter gehen können, wenn die Umstände, unter denen er handeln musste, anders gewesen wären. Bei aller Widersprüchlichkeit seines Naturells scheint mir Chruschtschow ein Akteur gewesen zu sein, der in der Hauptlinie seiner Handlungen äußerst konsequent war. Natürlich stellte er die leitende Rolle der Partei nicht in Frage, er wollte sie einfach modernisieren, ihr Monopol auf alles und jedes schwächen. Aber gerade an diesem Punkt stieß er auf mächtigen Widerstand, der letztlich auch zu seiner Niederlage führte. Ich frage mich, ob wir in den Jahren der Perestrojka wirklich aus allen Erfahrungen Chruschtschows gelernt haben.
Für die »Palastrevolution« des Jahres 1964 lassen sich mehr als genug Argumente finden. Aber
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