Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
begriffenes Gebiet, das nicht einfach war, weil Stawropol in der Nähe lag. Zunehmend siedelte sich Industrie an, und viele gingen dort zur Arbeit, weshalb sich in der Landwirtschaft ein großer Personalmangel, besonders ein Mangel an jungen Leuten, bemerkbar machte.
Die Kritik war ungerecht. Ich konnte mich nicht dazu äußern und war natürlich genervt. Tschatschin, ein älterer Genosse, ein ehemaliges Mitglied der »Blauen Bluse« [14] und verdienstvoller Agronom, mit dem wir nach diesem unglückseligen Parteiaktiv zurückfuhren, sah, dass ich in Gedanken versunken war. Da das für mich nicht typisch war, wandte er sich an mich und sagte: »Ich sehe, du bist verstimmt.«
»Ja. Ich verstehe das Motiv für solche öffentlichen Angriffe nicht.«
Meine Karriere hing in großem Maße von Kulakow ab. Ich denke, der Rüffel gehörte einfach zu seinen Plänen: Mich öffentlich auszupeitschen, war nützlich für mich und sollte den anderen eine Lehre sein. Wenn der Sekretär gegenüber seinen eigenen Kandidaten kein Blatt vor den Mund nahm, dann … Tschatschin, ein erfahrener Mann, der vierundzwanzig Jahre älter war als ich, sagte: »Vergiss es! Wenn man dir die Möglichkeit gegeben hätte, dich zu äußern, hättest du einen Streit mit dem Ersten Sekretär des Partei-Regionskomitees angezettelt. Und wie hätte das geendet?! Kulakow kennt deine Impulsivität und hat gut daran getan, dich nicht zu Wort kommen zu lassen. Verstehst du, Michail, es kann in der Partei nicht sein, dass der Erste Sekretär des Regionskomitees nicht recht hat und du, ein junger Mann, auch wenn du den Doktor hast und Kandidat für das Büro des Partei-Regionskomitees bist, in allem recht hast. So etwas ist mir im Leben nicht vorgekommen. Das ist alles. Beruhige dich.«
Das hielt ich nicht aus. »Hör mal, du Blaue Bluse. Du hast offenbar deine Jugend vergessen und blähst dich nun auf wie ein zu lange gegangener Teig.«
Und trotzdem war Kulakow geduldig mit seinen Mitarbeitern, unterstützte die aktiven und förderte neue junge Mitarbeiter. Ich sage das, weil ich zwei Jahre mit ihm zusammen im Amt des Leiters der Abteilung Parteiorgane des landwirtschaftlichen Partei-Regionskomitees gearbeitet habe und viel mit ihm in Berührung kam. Oft erhielt ich Aufträge von ihm, die weit über meine Pflichten hinausgingen. Ich durfte ihn auf seinen Reisen durch die Region begleiten. Das war eine gute Schule, ohne Strafpredigten.
Er fand schnell eine gemeinsame Sprache mit einfachen Leuten, Spezialisten, Vorgesetzten und verstand seine Sache aus dem Effeff. Nicht nur dass er ein ausgebildeter Agronom war, spielte eine Rolle, sondern mehr noch sein Charakter.
Er hatte Schwächen, die ihm alle verziehen. Meiner Ansicht nach schlug er manchmal einen zu familiären Ton bei den leitenden Kadern an und liebte es, im Kreis besonders vertrauter Menschen zu zechen. Manchmal verwandelte sich das in regelrechte Saufgelage. Aber die Chefetage konnte sich alles leisten. Der Erste Sekretär des Partei-Regionskomitees, das war ein Zar und Gott in einem. Er war mehr als ein Gouverneur der alten Zeit, sehr viel mehr. Er musste sich nur mit dem Generalsekretär und den Mitgliedern des Politbüros vertragen. Die Ersten Sekretäre des Partei-Regionskomitees ernannten nämlich die Ersten Sekretäre der Partei-Gebietskomitees, und die bildeten ihre Hausmacht, auf die sie bei allen heiligen und unheiligen Unternehmungen zählen konnten. Ich erinnere mich an keinen einzigen Fall, bei dem die Empfehlungen des Politbüros nicht vom Plenum der Partei-Regionskomitees gebilligt worden wären. Abgesehen von einem Fall in der weißrussischen kommunistischen Partei. Da wurde die Empfehlung des Politbüros des ZK der KPDSU für den Posten des Sekretärs des ZK der Kommunistischen Partei Weißrusslands nicht angenommen. Aber das konnte sich nur eine Parteiorganisation leisten, in der es einen starken Einfluss früherer Partisanen gab.
Ein beträchtlicher Teil der Zeit der verantwortlichen Mitarbeiter des Regions-Parteikomitees ging für Reisen durch die Region ins Land. Die Hauptaufgabe bestand darin, alles, was sich in den Parteiorganisationen, in der Wirtschaft, in der sozialen und kulturellen Sphäre tat, unter Kontrolle zu halten. Ich glaube nicht, dass das sinnlos war. Unter Kontrolle halten hieß alles daransetzen, damit das System funktionierte. Und das hieß, man muss alle auftretenden Probleme rechtzeitig lösen, Ausfälle sehen und die Lokalpolitik und
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