Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
Toilette und Flur. Das war ein Riesenereignis! Was brauchten wir mehr? Wir fühlten uns wie im Märchen. Unser Töchterchen wuchs. Und da Kinderfrauen Mangelware waren, mussten wir sie tagsüber erst in der Krippe und später im Kindergarten lassen.
Gleichzeitig gab es auch andere Änderungen: Ich wurde Zweiter Sekretär des Komsomol-Regionskomitees, und Raissa bekam eine Stelle als Dozentin am philosophischen Lehrstuhl des Medizinischen Instituts. Wir waren ständig überlastet, worunter vor allem unser Töchterchen litt. Abends holten wir sie nach Hause. Wenn ich manchmal spät von der Arbeit zurückkehrte, war Raissa in Tränen aufgelöst: Sie musste am nächsten Morgen eine Vorlesung halten, konnte Irina aber nicht beruhigen und schlafen legen. Es kam vor, dass Raissa durch eine Institutsversammlung aufgehalten wurde und Irina im Kindergarten warten musste. Wenn Raissa sich verspätete, weinte Irina und war nicht zu beruhigen. Raissa rannte zum Kindergarten und sah die an der Glastür plattgedrückte Nase und das verweinte Gesicht. Das gab ihr den Rest. Ich versuchte, Raissa so viel wie möglich abzunehmen. Aber das klappte nicht immer, weil ich ständig auf Dienstreisen musste.
Das Jahr 1958 war reich an Ereignissen. Die Stawropoler lieferten dem Staat 102 Milliarden Pud Getreide, größtenteils Weizen. Die Region Stawropol wurde mit dem Leninorden ausgezeichnet. Zur Ordensverleihung im Oktober reiste Nikita Chruschtschow an. Das war das erste Mal, dass ich ihn sah. Er machte einen offenen Eindruck. Ich spürte seine demokratische Haltung, seinen Wunsch, allen entgegenzukommen. Später war ich auf dem Parteitag und hatte die Möglichkeit, ihn näher zu beobachten. Ich hatte immer einen äußerst positiven Eindruck. Später erfuhr ich viel über Chruschtschow, darunter auch Negatives.
»Chruschtschows Stil« setzte Maßstäbe, und viele niedriger gestellte Funktionäre eiferten ihm nach. Die Crux war, dass, wenn dieser Führungsstil von Leuten einer niedrigen Kultur nachgeahmt wurde, er leicht vulgäre Formen annahm. Spontaneität und Volkstümlichkeit schlugen dann leicht in offene Grobheit um, und wenn ein Hang zum Fluchen und Trinken hinzukam, wurde es unerträglich.
Nach der Zerschlagung der »parteifeindlichen Gruppe« 1958 wurde Bulganin seiner Ämter als Vorsitzender des Ministerrats und Mitglied des Präsidiums des ZK der KPDSU enthoben und zu uns als Vorsitzender des Volkswirtschaftsrats der Region ins Stawropoler Land verbannt. Die Stawropoler nahmen ihn gut auf. Morgens, wenn Bulganin zur Arbeit kam, versammelte sich am Gebäude des Volkswirtschaftsrats häufig eine Menge, manchmal mehrere hundert Menschen. Diese Situation brachte Lebedew, den Sekretär des Regionskomitees, der um Chruschtschows Gunst buhlte, zur Weißglut.
»Willst du dich beim Volk anbiedern?«, schrie er Bulganin von der Tribüne der Regionsversammlung des Parteiaktivs zu. »Bist du gekommen, um uns die Demokratie zu bringen?«
Lebedew schikanierte ihn regelrecht, ließ ihm nicht den kleinsten Fehler durchgehen, enthob ihn dann seines Amtes als Vorsitzender des Volkswirtschaftrats und schickte ihn als Direktor in eine kleine Fabrik. Nur Chruschtschows Eingreifen konnte Bulganin vor dieser »Versetzung« bewahren.
Sein unbändiger Eifer brachte Lebedew zu Fall. Ende 1958 , als die Euphorie angesichts der ersten Erfolge der Landwirtschaft Chruschtschow endgültig den Verstand raubte, erklärte er öffentlich, man müsse die USA in puncto Prokopfleistung an tierischen Erzeugnissen nicht nur einholen, sondern überholen. Chruschtschow verbarg nicht, dass er von den Parteiführern schnelle und spürbare Ergebnisse erwartete. Aber da diese Aufgabe völlig unrealistisch war, animierte er dadurch unwillentlich die reine Schwindelei.
Diejenigen, die sich verdient machen wollten, legten sich mächtig ins Zeug. Unter diesem Druck kam es zum massenhaften Ankauf von Vieh aus der individuellen Hauswirtschaft der Bauern und einem Verkauf in den Nachbarregionen. Besonders tat sich dabei der Sekretär Larionow von Rjasan hervor. 1959 übererfüllte das Gebiet Rjasan den Jahresplan für die Fleischproduktion um das Dreieinhalbfache, die Stawropoler Region um das Zweieinhalbfache. Aber um welchen Preis! Ganze Schaf- und Pferdeherden und sogar Zugochsen wurden abgeschlachtet. Die individuelle Hauswirtschaft der Bauern wurde völlig vernichtet.
Die Presse machte großen Rummel um die »ersten Schwalben« und rief alle anderen auf, es den
Weitere Kostenlose Bücher