Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
mal richtig einschätzen, es gut vorbereiten und dich aufpäppeln. Deine Behandlung ist nicht ohne Komplikationen verlaufen. Aber das Wichtigste ist, dass du weißt, sie würden die Transplantation nicht ins Auge fassen, wenn sie keine Hoffnung hätten. Du darfst dich nicht aufregen und Kräfte verlieren.«
Sie beruhigte sich, schloss die Augen und bedachte wohl unser Gespräch. Ich saß am Fenster und war ebenfalls sehr mitgenommen. Dann öffnete Raissa auf einmal die Augen, ging nicht mehr auf das Gespräch ein und sagte: »Komm zu mir und gib mir die Hand.« Sie ergriff meine Hand, wie sie das immer tat, legte sie auf ihren Bauch und schlummerte gleich ein. Ich saß noch mehrere Stunden an ihrem Bett … Sie schlief.
Am nächsten Morgen kam Irina wie immer zu Raissa und klärte alles mit den Ärzten. Als ich kam, war sie ruhig, wie mir schien. Aber sobald wir allein waren, standen ihr die Tränen in den Augen: »Ich will nach Hause. Egal, was wird …«
Auf eine solche Reaktion war ich nicht gefasst. Als ob die ganze Schwere ihres Zustands in ein paar Worten aus ihr herausbreche.
Sie sagte wieder: »Hörst du, ich will nach Hause. Ich kann doch zu Hause in unserem Schlafzimmer liegen, in unserem Bett. Ich hasse das alles hier!«
Ich saß neben ihr und nahm ihre Hand. Sie schwieg und hörte nicht auf zu weinen.
»Rajetschka, meine Liebe! Du musst erst gesund werden. Du weißt doch, wie sehr gerade ich die Krankenhäuser hasse. Aber wir sind jetzt in einer Klinik, die wir gegen keine andere eintauschen können, erst recht nicht gegen unser Haus. Für unseren Weg nach Hause müssen wir erst die Behandlung zu Ende führen und die Transplantation vornehmen. Erinnere dich, was vor kurzem mit mir los war. Aber wir haben es doch geschafft, aus dieser hochgefährlichen Situation herauszukommen.«
Ein Jahr vor diesen Ereignissen war bei mir eine Allergie ausgebrochen, die sich über ein Jahr und drei Monate hinzog. Sie schritt schnell fort und führte dazu, dass ich von Kopf bis Fuß mit roten Flecken bedeckt war. Es gab eine Zeit, da ich nicht unter die Leute gehen konnte. Hinzu kamen viele unangenehme Komplikationen. Nur die Einnahme starker Präparate hielt die Entwicklung der Krankheit auf, heilte sie aber nicht. Dann verschwand die Allergie auf einmal. Ich sagte Raissa, ich sei ihr dankbar, dass sie alles unternommen hatte, um mir wieder auf die Beine zu helfen …
Noch jetzt geht mir nach, dass ich sie nicht habe retten können. Nicht nur einen seelischen Schmerz verspüre ich, sondern auch Scham. Wie ich mich auch dafür schäme, dass ich grob wurde, wenn wir uns stritten. Sie konnte einfach nicht anders: Ihre Nerven hielten all das nicht aus, was wir mitmachen mussten. Ich schäme mich, dass ich aus der Haut fuhr, sie beleidigte, ihr Vorwürfe machte, obwohl ich doch sah, wie schwer sie alles nahm. Ich kann nicht ohne Schmerz daran denken, wie sie unter Tränen fragte: »Womit habe ich das verdient?«
Sie war erschüttert über das Verhalten vieler Menschen, insbesondere aus der Intelligenzija. Selten hatte jemand den Mut, offen gegen die organisierte, gnadenlose Hetzjagd aufzustehen, der nicht nur ich, sondern auch sie ausgesetzt war. Nur der Filmregisseur Stanislaw Goworuchin, ein offener, direkter, in seinen Urteilen konsequenter Mann, sagte auf einem der gut besuchten Treffen im Moskauer Filmzentrum: »Ich weiß, dass Präsident Gorbatschow und Raissa Maximowna unter uns sind. Ich möchte mich vor allen und vor dem ganzen Land dafür entschuldigen, dass ich in meinen öffentlichen Äußerungen voreilige Schlüsse gezogen habe. Verzeihen Sie mir!«
Wenn ich an Goworuchin erinnere, kommt mir gleich noch ein anderes Treffen in den Sinn. In demselben Saal feierte man Kobsons Leistungen und Verdienste. Er hat wirklich etwas vorzuweisen. Was mich verwunderte, war die Rede Luschkows. Er war völlig aus dem Häuschen. Offenbar hatte er ein Gespür für die Temperatur des Saals, die mit dem Rang der Leute zusammenhing: Dort saßen durchweg »hohe Tiere«. Luschkow sprach von Leuten, die das Land in die Zukunft führen – und bekam Standing Ovations.
Die Veranstaltung lief schon über drei Stunden, da fiel Kobson auf einmal ein, dass Präsident Gorbatschow und Gattin im Saal saßen. Dreist brüllte er in den Saal: »Michail Sergejewitsch, bitte stehen Sie auf. Wovor haben Sie Angst?!«
Solche Situationen bringen mich in Rage. Ich stand auf, ging zur Bühne und sagte noch im Gehen: »Erstens habe ich vor
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