Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
ersten Monaten unseres neuen Lebens setzten wir uns an jedem freien Tag ins Auto und besichtigten die Stadt. Die ersten Fahrten führten uns an die alten, vertrauten Stätten: die Mochowaja-Straße, Krasnyje Worota, Krasnoselskaja, Sokolniki mit der denkwürdigen Feuerwarte, den Rusakow-Club und natürlich die Stromynka-Straße … Wir überquerten die Jausa und fuhren auf den Preobraschenskij-Platz. Unterwegs warfen wir einen Blick in das Gebäude, wo das Standesamt von Sokolniki gewesen war.
Alles hatte sich verändert. Ich habe schon von den Veränderungen in der Malaja-Grusinskaja- und der Bolschaja-Grusinskaja-Straße gesprochen. Auch der Preobraschenskij-Platz und die Landschaft auf den Leninbergen hatten sich verändert. Die Universität und die Sprungschanze an der Moskwa sahen in unseren Jugendjahren auf dem Hintergrund der umliegenden Baulücken und kleinen Gebäude einsam und verwaist aus. An der Stelle des früheren Dorfes Tscherjomuschki, wo damals die Bauarbeiter gewohnt und wir die Päckchen von unseren Verwandten auf der Post abgeholt hatten, war ein Neubauviertel entstanden.
Wir waren nicht froh über die Veränderungen, sondern empfanden auch Wehmut, dass die alten, windschiefen Häuser, all das, was unser Leben damals, in unserer Studentenzeit, ausgemacht hatte, nicht mehr da war. Natürlich ist die Verbesserung der Wohnverhältnisse für die Menschen ein Glück, aber wir sehnten uns irgendwie nach dem alten Moskau.
In der Nähe des alten Universitätsgebäudes in der Mochowaja-Straße war der berühmte Alte Arbat. Lange und oft waren wir durch diese krummen Gassen geirrt. Nun befand sich dort der Neue Arbat mit Hochhäusern und einem Durchgang zum Kutusow-Prospekt. Der Dichter Wosnesenskij hat den neuen Komplex treffend »Das künstliche Gebiss Moskaus« genannt.
Wir fuhren aufs Geratewohl durch Moskau, um die Stadt besser kennenzulernen, die gegenwärtige und die alte. Mit der Zeit kam uns die Idee, uns Moskau in Jahrhunderten anzueignen: das 14 . bis 16 . Jahrhundert, das 17 ./ 18 . Jahrhundert und so weiter. Meistens begleitete uns einer der Moskauer Historiker, mit denen Raissa Bekanntschaft geschlossen hatte.
Später dehnten sich unsere Erkundungsreisen auf das Umland von Moskau aus. Den größten Eindruck auf uns machten die Landschaften an der Moskwa. Wir hatten von Kolomenskoje gehört, aber das, was wir dann sahen, zog uns völlig in seinen Bann: Die Christi-Himmelfahrts-Kirche, die in die Höhe, himmelwärts, zu Gott strebt! Das sagte der französische Komponist Berlioz über diese Kirche.
Aber wenn es darum geht, wie wir unsere Freizeit verbrachten, dann muss man als Erstes sagen, dass wir endlich in vollen Zügen unserer alten Theaterleidenschaft frönen konnten. Schon früher hatten wir uns bei kurzen Moskau-Besuchen möglichst alle interessanten Stücke angesehen. Besonders in Erinnerung geblieben sind mir
Zehn Tage, die die Welt erschütterten
[20] und die
Antiwelten
[21] des Taganka-Theaters; und von dem Ballett
Spartakus
[22] im Bolschoj-Theater waren wir völlig hingerissen.
Nachdem wir uns in Moskau eingewöhnt hatten, wurden wir leidenschaftliche Theaterfans.
An der Spitze: Leonid Breschnew
Die größten Überraschungen erwarteten mich im Zentralkomitee. Mein ständiger Arbeitsplatz war das Sekretariat des ZK der KPDSU . Die Sitzungen fanden wöchentlich statt; zu den Aufgaben gehörte auch die Kontrolle, ob die Beschlüsse umgesetzt wurden, sowie Auswahl und Einteilung der Kader, also die Nomenklatur. Das war ein wirksamer Hebel. Während das Politbüro die Politik festlegte und die Beschlüsse annahm, die von den ZK -Abteilungen, der Regierung und bestimmten Ämtern vorbereitet worden waren, war das Sekretariat ein strenger Kontrollmechanismus über alles und jedes, nicht zu vergessen: über alles, was die Ideologie betraf.
In der ersten Zeit traf meine energische Mitarbeit im Sekretariat des ZK und an der Diskussion auf den Sitzungen bei meinen engsten Kollegen auf eine nicht gerade positive Resonanz. Fast alle warfen mir schiefe Blicke zu. Einige betrachteten mich als »Aufsteiger«. Aber ich kam aus einer großen Parteiorganisation, wo sich die Effektivität aller Entscheidungen ohne Ausnahme in der Realität hatte bewähren müssen.
Ich versuchte, mich nicht in die Routine der Subordination verstricken zu lassen. Ich wehrte mich dagegen. Das hört sich leicht an, aber diese Linie durchzuhalten, war alles andere als einfach. Später, in der Zeit der
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