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Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)

Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)

Titel: Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Gorbatschow
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Perestrojka, sollte ich gezwungen sein, nötige Entscheidungen durchzufechten, und fragen müssen, warum die einen oder anderen wichtigen Dokumente unterschlagen werden. Und ich sollte in der Vergangenheit verdiente Menschen entlassen müssen, weil sie nicht mehr die Fähigkeit hatten, sich auf die neue Situation einzustellen. Aber noch lag das in weiter Ferne.
    Ich fühlte mich bei den Sitzungen des Sekretariats oft eingeengt und unbehaglich. Als Erster Sekretär des Regionskomitees in Stawropol hatte ich bei weitem mehr Freiheit gehabt als hier an der Spitze der Macht.
    Fast neun Jahre hatte ich als Erster Sekretär des Regionskomitees in Stawropol gearbeitet – im Brennpunkt der Politik. Und wenn sich in den ersten Jahren meiner Parteikarriere manchmal der Gedanke einstellte, ob ich mich nicht lieber in die Wissenschaft zurückziehen sollte, so hat mich die Arbeit als Erster Sekretär des Regionskomitees endgültig davon überzeugt, dass ich richtig gehandelt hatte. Die Politik hatte über alle meine Vorlieben und Wünsche gesiegt. Ihr habe ich meine besten Lebensjahre geopfert. Ich bin auf den Geschmack gekommen. Diese Welt nahm mich ganz gefangen, aber nie war ich ein Sklave der Politik.
    Zurück zum Sekretariat. Als ich Mitglied wurde, leitete es Suslow. Das war sein Vorrecht. Nur in seiner Abwesenheit, wenn er auf Dienstreise oder im Urlaub war, übernahm Kirilenko die Leitung. Suslow war dieser verantwortungsvollen Arbeit gewachsen. Er hatte eine enorme Erfahrung. Mit 44  Jahren unter Stalin ins ZK -Sekretariat gekommen, blieb er sein ganzes Leben in leitender Stellung. Er kümmerte sich um Fragen der Ideologie und der internationalen Politik und war ein sehr bescheidener, uneigennütziger Mann, der einen merkwürdigen Kleidungsstil hatte. Man nannte ihn den »Mann mit den Gummiüberschuhen«. Wenn er im ZK auf die Etage kam, wo sein Büro war, zog er am Aufzug seine Galoschen aus.
    Ein anderes Attribut seiner Kleidung, das alle kannten, war sein langer grauer Regenmantel. Zum 20 . Jahrestag der Neulandgewinnung fand 1978 ein Treffen in Kasachstan statt, bei dem sich die Ersten Sekretäre der Gebiete trafen, die bei der Neulandgewinnung mitgemacht hatten (das waren nicht nur Kasachstan und Sibirien, sondern auch Rostow, Stawropol und andere Bezirke). Wegen eines Treffens mit dem französischen Präsidenten Pompidou in Pizunda kam Breschnew erst spät nachts in Kasachstan an. Die Führung von Kasachstan und die Ersten Sekretäre der Regions- und Gebietskomitees holten ihn in Zelinograd vom Bahnhof ab. Wir Nordkaukasier standen am Ende der Warteschlange. Breschnew begrüßte alle und drückte ihnen die Hand. Auch wir kamen an die Reihe.
    Die Teilnehmer des 20 . Jahrestages der Neulandgewinnung in Kasachstan: S. R. Raschidow, M. S. Gorbatschow, W. W. Schtscherbizkij, A. A. Gretschko, L. I. Breschnew, P. M. Mascherow, W. W. Grischin und D. A. Kunajew, 1974
    »Wie habt ihr die Zeit verbracht?«, fragte Breschnew.
    »Gut, wir haben uns einen Film angesehen, den die Kasachen gemacht haben.«
    »Was für einen?«
    »Einen neuen Dokumentarfilm. Er zeigt viele Treffen von Ihnen mit Neulandgewinnern. Sie haben da einen grauen Regenmantel an.«
    »Wie Suslow?«
    Alle Sekretäre nickten.
    Breschnew hatte übrigens vor Suslow große Achtung und vertraute ihm blind. Bei der Vorbereitung von Breschnews Vorträgen für Plenartagungen und große Konferenzen wurden die Entwürfe allen Politbüromitgliedern und Sekretären des ZK zugeschickt, damit sie Anmerkungen und Wünsche anbringen konnten. Breschnews Anweisung für den Umgang mit diesen Vorschlägen war kurz und bündig: »Die Anmerkungen von Suslow sind voll und ganz, zu hundert Prozent zu berücksichtigen. Die Anmerkungen der anderen Genossen sind zu diskutieren.«
    Als ich nach Moskau kam, war die Umgruppierung der Kräfte innerhalb der obersten Parteiorgane abgeschlossen. Breschnews Machtantritt im Oktober 1964 war das Resultat eines Kompromisses zwischen den verschiedenen Fraktionen gewesen, die Chruschtschow gestürzt hatten. Breschnew war keine überragende Gestalt, sodass alle meinten, sie könnten ihn manipulieren. Doch diese Rechnung ging nicht auf. Mit großem taktischem Geschick hatte er seine Position zu stabilisieren gewusst und sich praktisch unangreifbar gemacht. Mit der Amtsenthebung Podgornyjs und Kosygins war Breschnew praktisch Alleinherrscher.
    Es ist eine Ironie des Schicksals: Je mehr Breschnew seine »persönliche Macht«

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