Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
wollte mich so allmählich habilitieren. Ich weiß nicht, ob ich hier Arbeit finde. Vielleicht ist das genau der richtige Zeitpunkt, um mich an die Habilitation zu setzen?«
Ich antwortete ehrlich: »Darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Wir werden eine neue Wohnung bekommen. Sie gemütlich für die Familie einzurichten, wird bestimmt eine Menge Zeit in Anspruch nehmen.«
Bald erhielten wir eine Wohnung in der Schtschusew-Straße in einem Haus, das die Moskauer »Adelsnest« nannten. Auch eine neue Datscha bekamen wir. Wir wurden von Neuankömmlingen zu festen Einwohnern. Die Datscha lag im Dorf Sosnowka, an der Umgehungsstraße, nicht weit vom Landschaftsschutzgebiet Krylatyje Cholmy. Gegenüber, am anderen Ufer der Moskwa, liegt Serebrjanny bor (Silberwald). Damals war das wirklich ein Wald. Heute ist dieser Bezirk, an dem ich jeden Tag auf dem Weg zu meiner Arbeit in der Gorbatschow-Stiftung vorbeikomme, mit Hochhäusern zugebaut. Aus der Ferne erinnern sie an die Silhouette von Manhattan.
In den dreißiger Jahren hatte Sergo Ordschonikidse in der Datscha gelebt, die wir damals bezogen, unmittelbar vor uns benutzte sie Tschernenko. Es war ein altes Holzhaus, ziemlich altersschwach, aber architektonisch einfallsreich und gemütlich. Seine Baufälligkeit machte sich auch am starken Knarren der Treppe in den zweiten Stock bemerkbar: Wir hatten den Eindruck, sie bricht gleich zusammen.
Ende Dezember fuhr Raissa nach Stawropol, um Irina und Anatolij sowie alles, was sie für nötig hielt, nach Moskau zu holen. Ich riet ihr: »Wirf möglichst viel weg oder gib es den Nachbarn. Die Bücher kannst du der Bibliothek schenken.«
So machte sie es auch. Unter den Möbeln, die sie mitbrachte, waren die zwei Stühle, die ich 1955 anlässlich ihrer Ankunft in Stawropol gekauft hatte. Sie waren schon alt, aber stabil. Ich freute mich, als sie sie brachte. »Wunderbar, dass du diese Stühle mitgenommen hast.« Sie brachte auch noch einen kleinen Teppich in sehr fröhlichen Farben mit, den ihr ihre Mutter geschenkt hatte. Die Stühle sind inzwischen weggekommen, aber der Teppich hat sich bis auf den heutigen Tag erhalten.
Raissa ging an die Möblierung der Wohnung und der Datscha zeitgemäß heran. Sie mochte keine Teppiche, nannte sie »Staubfänger«. Genauso wenig mochte sie schwere Vorhänge oder schwere Möbel – alles, was altmodisch aussah.
Zu Neujahr trafen Raissa und die Kinder in Moskau ein. Das Jahr 1979 begann. Neujahr feierten wir im Familienkreis. Als die Kreml-Glocken zwölf schlugen, hoben wir die Weingläser, beglückwünschten uns zu der neuen Wohnung und hofften, es werde sich schon alles zum Guten fügen.
Von den ersten Tagen an ging ich ganz in der Arbeit auf und arbeitete täglich zwölf bis vierzehn Stunden. Irina und Anatolij immatrikulierten sich am Zweiten Medizinischen Institut. Während des Gesprächs betrachtete der Prorektor, der für den Lehrplan verantwortlich war, Irinas Zeugnis im Immatrikulationsbuch des Medizinischen Instituts von Stawropol und sagte: »Sie haben überall ›ausgezeichnet‹. Das wird Ihnen bei uns wohl nicht gelingen.
Irina antwortete: »Wir werden ja sehen.«
Sie beendete das Institut mit dem Roten Diplom, schrieb ihre Dissertation, brachte sie mit Erfolg zu Ende und lehrte auch in diesem Institut. Irina verfasste eine interessante Forschungsarbeit aus dem Grenzbereich sozialer und medizinischer Probleme. Das Thema ihrer Dissertation hieß: »Todesursachen von Männern im arbeitsfähigen Alter in der Stadt Moskau.« Das Thema wurde sofort für geheim erklärt, später auch ihre Dissertation. Ich glaube, das hat sich bis heute nicht geändert. – Aber all das kam erst später, ich habe vorgegriffen.
Raissa interessierte sich für meine Arbeit, meine Gesundheit und Stimmung. Sie beschäftigte sich damit, unser Moskauer Leben einzurichten und besichtigte dann die Stätten unserer Jugend. Zuerst traf sie sich mit ihrer besten Freundin, mit der sie ihr ganzes Leben lang befreundet war, mit Nina Ljakischewa. Es handelt sich um jene Nina, die Raissa zu ihrer Hochzeit die (für die damalige Zeit) schönen weißen Schuhe lieh. Raissa ging auch zur Philosophischen Fakultät und traf sich mit ihren Lehrern. Sie wollte gern wieder wissenschaftlich arbeiten. Sie sagte zu mir: »Ob ich mich habilitieren soll? Mich kennen hier ja alle, und sie kennen auch meine soziologischen Arbeiten.«
Ich sagte realistisch: »Kommt Zeit, kommt Rat.«
Sie stimmte zu. Wir mussten in
Weitere Kostenlose Bücher