Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
stärkte, desto mehr verlor er seine Arbeitsfähigkeit, sodass seine reale Macht minimal war. Man konnte zuschauen, wie er sich veränderte. Früher war er nicht nur energischer, sondern auch demokratischer gewesen, hatte normale menschliche Beziehungen nicht gescheut, zu Diskussionen aufgefordert, ja, es gab sogar Diskussionen bei den Politbüro- und Sekretariatssitzungen.
Seit Mitte der siebziger Jahre hätte Breschnew aufgrund seines Gesundheitszustands seinen Posten eigentlich aufgeben müssen. Das wäre für ihn selbst menschlicher gewesen und hätte den Staatsinteressen mit Sicherheit gedient. Gromyko erzählte, Breschnew habe mehrmals den Rücktritt erwogen. Aber es gab keine klare Führungspersönlichkeit unter den anderen. Also blieb er auf seinem Posten.
Der Aufrechterhaltung des labilen Gleichgewichts sollten auch die peinlich beachteten Regeln der Subordination dienen. Jedes Politbüro- und Sekretariatsmitglied musste seinen Platz kennen und durfte nicht aus der Reihe tanzen. Diese Subordination war mitunter völlig absurd. Sie äußerte sich auch in der Sitzordnung im Sitzungssaal des Politbüros. Allen Ernstes.
Man sollte meinen, da versammeln sich Kollegen, Mitstreiter. Was sollte der Zirkus? Aber nein, jeder musste einen ganz bestimmten Platz am Tisch einnehmen. Leonid Breschnew: am Kopfende, rechts von ihm: Suslow, links: der Vorsitzende des Ministerrats Kosygin, nach dessen Tod Tichonow. Neben Suslow: Kirilenko, dann Pelsche, Solomenzew, Ponomarjow und Demitschew. Auf der anderen Seite neben Kosygin: Grischin, dann Gromyko, Andropow, Ustinow, Tschernenko und schließlich Gorbatschow. Es gab Momente, da es Breschnew schwerfiel, an der Arbeit des Politbüros teilzunehmen. Am Anfang wunderte, ja schockierte mich das. Aber die Erfahrung, wie sich meine Kollegen verhielten, wies mir den Weg.
Zur Abwechslung möchte ich einen Witz über Breschnew erzählen:
Einmal lud Leonid Breschnew seine Mutter ein, um ihr zu demonstrieren, wie er wohnt. Zuerst führte er sie in seine Moskauer Wohnung auf dem Kutusow-Prospekt; dann brachte er sie zu seiner Datscha in der Siedlung Saretschje am Ring, wo er meistens wohnte. Und dann nach Sawidowo zu seiner Residenz im Grünen, wo er gern seine Freizeit verbrachte, er ging da häufig auf die Jagd. Und zum krönenden Abschluss fuhr er mit der ganzen Familie in Urlaub auf die Krim, zur Residenz des Generalsekretärs im Süden. Er fragte seine Mutter nach dem Eindruck von all dem, was sie gesehen hatte.
»Ja, Ljonja, das gefällt mir wirklich sehr. Aber eine Frage: Was machst du mit diesem ganzen Reichtum, wenn die Kommunisten wieder an die Macht kommen?!«
In der ersten Zeit war mir das Wichtigste, mich möglichst schnell in den Agrarsektor einzuarbeiten, um mir einen Überblick über die Lösungsmöglichkeiten für die anstehenden Aufgaben und Probleme der Agrarpolitik insgesamt zu verschaffen. – Eine Merkwürdigkeit kam zur anderen. Zum Beispiel produzierten die UDSSR und die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft damals gleich viel Getreide, obwohl in der UDSSR für Futtermittel 100 bis 120 Millionen Tonnen Getreide verbraucht wurden, während es in der EWG nur 74 Tonnen waren. An tierischen Produkten stellte die EWG weitaus mehr her als unser Land. Ein ganzer Komplex von Problemen tauchte auf, der eine Änderung der Methoden der Viehzucht bei uns erforderte, wobei wir bei weitem nicht alles aus den westlichen Ländern übernehmen konnten.
Offen gesagt, je besser ich die Situation durchschaute, desto mehr Sorgen machte ich mir um unseren Agrarsektor, desto mehr Zweifel am Sinn unserer Wirtschaftspolitik kamen mir. Ich traf auf Folgen unbedachter Beschlüsse, deren Umsetzung Schaden angerichtet hatte und der Natur unseres Landes weiter schadete. Als Folge des Baus der großen Kraftwerke, auf die wir stolz waren, wurden mehr als 14 Millionen Hektar bester Auenflächen, Hunderte von Dörfern, Häusern, Kirchen und Gräbern überflutet. Viele Industriebetriebe, die man zu verschiedenen Zeiten gebaut hatte, leiteten ungereinigte Abwässer in die Flüsse, was zu ihrer Verschmutzung geführt hatte. Das bedeutete einen Verlust an Süßwasserreserven und einen großen Verlust an Fischbestand. Das ungeordnete, chaotische Abholzen der Wälder und andere unbedachte Handlungen hatten zu ernsten ökologischen Problemen geführt.
Das Plansystem, das sich auf das staatliche Eigentum stützte, hatte scheinbar gigantische Möglichkeiten eröffnet, die natürlichen Faktoren
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