Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
im Hinblick auf soziale Veränderungen und eine rationale Lösung der Schlüsselprobleme der Volkswirtschaft einzusetzen. Aber in der Praxis sah alles anders aus: Aus der überzentralisierten Struktur des Riesenlandes erwuchsen große Schwierigkeiten. Nach den Gesetzen des bürokratischen Systems versuchten alle Beteiligten, zuerst einen Nutzen für sich selbst zu ziehen. Viel wurde verschleudert, geraubt, floss in unbekannte (und bekannte!) Taschen.
Von Anfang an stieß ich auf all diese Probleme. Das Jahr 1979 war im Vergleich zu den vorherigen wenig ertragreich. Und als ich die Situation analysierte, kam ich zu dem Schluss, dass der vorher erstellte Plan für die Lieferungen irreal war und die Differenz durch Getreidekäufe im Ausland ausgeglichen werden musste. Ich arbeitete eine Prognose aus und schickte sie an die Politbüromitglieder.
Dieser Bericht war der Grund meines ersten Zusammenstoßes mit Kosygin. Dazu kam es in einer ungewöhnlichen Situation. Die ganze Spitze hatte sich im Kreml versammelt, um den Astronauten Ljachow und Rjumin, die mit 175 Tagen den längsten Weltraumflug jener Zeit hinter sich gebracht hatten, ihre Auszeichnungen zu überreichen. Am Eingang in den Katharinensaal kam die Unterhaltung auf alles Mögliche. Breschnew interessierte sich wie immer für die Ernte. Ich sagte, man müsse mehr Wagen für den Getreidetransport nach Kasachstan schicken. Aber plötzlich mischte sich Kosygin ein und sagte recht schroff zu mir: »Immer diese Bettelei, ihr müsst das aus eigenen Kräften schaffen.«
Das versetzte mir einen Schlag. Breschnew unterbrach ihn und sagte ziemlich friedliebend: »Hör mal, du hast keine Ahnung, was Ernte heißt. Das muss man in die Hand nehmen.«
Kosygin fuhr noch gereizter fort: »Wir Politbüromitglieder haben hier einen Bericht der Landwirtschaftsabteilung des ZK bekommen – mit Gorbatschows Unterschrift. Seine Abteilung und er lassen sich für lokalpatriotische Interessen einspannen, aber wir haben keine Devisen, um Getreide zu kaufen. Es hat keinen Sinn, den Liberalen zu spielen, man muss strikt bei dem Soll bleiben und die Einhaltung des aufgestellten Plans für die Lieferungen fordern.«
Das waren ernste Anschuldigungen, und sie trafen mich. Ich sagte, wenn das von meiner Seite als Schwäche ausgelegt werde, dann solle doch der Vorsitzende der Regierung seinen Apparat beauftragen, das Getreide aus dem Ärmel zu schütteln, und die Ablieferungsaktion zum Ende bringen.
Es trat Grabesstille ein … Uns half einer der Platzanweiser: »Leonid Iljitsch«, sagte er, »alles ist fertig, Sie müssen gehen.«
Im Gänsemarsch schritten wir hinter Breschnew in den Katharinensaal. Nach der Verleihung der Auszeichnungen an die Astronauten ging ich in mein Büro. Meine Laune war schlecht. Nicht nur deshalb, weil ich mit Kosygin, den ich sehr verehrte, in Konflikt geraten war. In solchen Momenten versuche ich immer, kalt zu bleiben und nüchtern zu überprüfen, ob ich einen Fehler gemacht habe. Fünfzehn Minuten später rief Breschnew an. »Bist du verstimmt?«, fragte er, wohl um mich aufzumuntern und zu beruhigen.
»Ja«, antwortete ich. »Ich kann es nicht auf mir sitzen lassen, dass mir eine staatswidrige Position vorgeworfen wird.«
»Du hast dich richtig verhalten, ärgere dich nicht. Man muss wirklich darauf dringen, dass sich die Regierung mehr um die Landwirtschaft kümmert.« Damit war das Gespräch beendet.
Zwei Stunden später klingelte es wieder. Kosygin. Als ob nichts vorgefallen wäre, wandte er sich in einem normalen Ton an mich: »Ich möchte das begonnene Gespräch fortsetzen.«
»Alexej Nikolajewitsch«, antwortete ich gleichfalls ohne Vorwurf, »vielleicht nehmen Sie wirklich die Initiative in dieser Schlussphase in Ihre Hände. Für mich ist das die erste Kampagne dieser Art, und das auch noch in einem so schweren Jahr.«
Aber auf einmal hörte ich von Kosygin: »Ich habe Ihren Bericht noch einmal gelesen und bin einverstanden. Legen Sie den Bericht dem Politbüro vor.«
Er sagte das völlig neutral, ohne Vorwurf, aber auch ohne Entschuldigung. Nun gut, dachte ich …
Der Vorfall mit Kosygin hatte völlig unerwartete Folgen für mich. Ein Teil der Führung nahm ihn als Beweis meiner unnachgiebigen Haltung gegenüber Kosygin persönlich auf. Ich musste daran denken, als Suslow mir eines Tages sagte: »Wir haben ein Gespräch gehabt. Die Plenartagung steht bevor. Es gibt Pläne, deine Position zu stärken. Darum wurde vorgeschlagen, dich
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