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Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)

Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)

Titel: Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Gorbatschow
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unserem neuen Leben wirklich viel lernen, mussten umdenken und etliches begreifen. Und obwohl meine Arbeit wenig Zeit für die Familie übrig ließ – denn ich war nicht nur an den Werktagen, sondern auch jeden Samstag beschäftigt –, versuchten wir, uns in das Hauptstadtleben hineinzufinden und neue Kontakte zu knüpfen. Natürlich wollten wir verstehen, in welcher Atmosphäre die Familien meiner Kollegen lebten und sie einfach kennenlernen. Das war leider alles nicht so leicht: Treffen und Besuche selbst bei denen, die ich schon lange kannte, waren nicht gern gesehen. Man kann ja nie wissen …
    Ich wusste, dass Breschnew nur einen eng begrenzten Kreis von Leuten aus dem Politbüro zu sich einlud: Gromyko und Ustinow, seltener: Andropow und Kirilenko. Es kam für mich völlig unerwartet, als Suslow Anfang Sommer 1979 unsere ganze Familie einlud, den Sonntag mit ihm zusammen zu verbringen und auf dem Gelände einer der leerstehenden Datschen von Stalin spazieren zu gehen. Wir verbrachten fast den ganzen Tag dort: gingen spazieren, unterhielten uns, tranken Tee. Es war ein Treffen von Stawropolern – eine Aufmerksamkeit des alteingesessenen Moskauers gegenüber seinem jungen Kollegen, der aus jener Gegend kam.
    Interessant ist, wie Beziehungen innerhalb dieses Kreises jeweils aussahen: Breschnew, Kosygin, Suslow, Gromyko und Ustinow duzten sich, und zwar sogar bei offiziellen Sitzungen. Alle anderen siezten Breschnew und die älteren Mitglieder des Politbüros.
    Folgendes ist mir noch aufgefallen: Als ich Sekretär des Regionskomitees war und zu Suslow ging, siezten wir uns. Als ich ZK -Sekretär geworden war, duzte er mich, während ich ihn natürlich weiter siezte. Sein Duzen hieß: Du gehörst dazu.
    Noch eine Erinnerung zu diesem Thema. Einige Jahre gingen ins Land, ich wurde Politbüromitglied, und wir bezogen eine andere Datscha, neben der von Andropow. Einmal ergriff ich die Initiative und lud ihn zum Mittagessen ein. Aber wenn ich daran denke, was daraus wurde, ist es mir immer noch unangenehm. Ich rief ihn an und lud ihn mit seiner Frau ein: »Wir machen heute wie in guten alten Zeiten ein Stawropoler Essen.«
    Mit ausgeglichener, ruhiger Stimme antwortete Andropow: »Ja, ja. Das waren gute Zeiten. Aber jetzt, Michail, muss ich Ihre Einladung leider ausschlagen.«
    »Wieso?«, fragte ich verwundert.
    »Weil morgen – von wegen morgen, jetzt gleich, sobald wir uns auf den Weg zu deiner Datscha machen – der Klatsch losgeht und gefragt wird: wer, wo, wieso, was haben sie besprochen?«
    »Nicht doch, Jurij Wladimirowitsch!«
    »Doch, Michail. Wir brauchen nur loszugehen, da wird es Breschnew schon gemeldet. Ich will dir nur reinen Wein einschenken.«
    Seit diesem Vorfall hatten wir nicht mehr das Bedürfnis, jemand aus der Chefetage zu uns einzuladen oder von ihm eingeladen zu werden. Wir trafen uns weiterhin mit unseren alten Freunden, knüpften neue Bekanntschaften, luden zu uns ein, gingen zu Besuch, nur nicht zu den Kollegen aus dem Politbüro oder dem ZK -Sekretariat.
    Raissa hatte mit dem neuen System von Beziehungen Probleme. Sie kam mit dem eigenartigen neuen Leben der »Kreml-Frauen« nicht klar. Enge Beziehungen gab es nicht. Die Welt der Ehefrauen war das Spiegelbild der Hierarchie der leitenden Männer, wobei einige weibliche Nuancen hinzukamen. Nach mehreren Treffen der Frauen war Raissa entsetzt über die Atmosphäre: eine Mischung aus Arroganz, Taktlosigkeit und Speichelleckerei.
    Das ging bis zu kuriosen Vorfällen. Am 8 . März 1979 , dem Internationalen Frauentag, fand wie üblich ein Regierungsempfang für ausländische Gäste und berühmte russische Frauen statt. Alle Frauen der Spitze mussten an dem Empfang teilnehmen. Zu dieser ersten offiziellen Veranstaltung kam Raissa früher als die anderen und stellte sich dahin, wo frei war, ohne zu wissen, dass hier die strengste Subordination zu beachten war. Eine der Hauptdamen, Kirilenkos Frau, neben die sich Raissa gestellt hatte, sprach sie an und sagte ihr ohne Hemmungen: »Ihr Platz ist da, am Ende …«
    Raissa wiederholte danach ständig: »Was sind das nur für Menschen?«
    Außerhalb des Kreises der »Auserwählten« war alles einfacher. Irina und Anatolij gingen in dem neuen studentischen Milieu auf und fanden schnell neue Freunde. Raissa frischte ihre Kontakte zu den Kollegen in der MGU und im Institut für Philosophie auf. Sie besuchte Konferenzen, traf sich mit Freunden und fing mit Erfolg an, Englisch zu lernen.
    In den

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