Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
lag nur in neuen Lösungen in der Außenpolitik und einem Dialog mit den Amerikanern. Dazu kam es nicht. Alles blieb dem Trott der alten Politik verhaftet, die immer häufiger zu Ausfällen führte.
Sich für Reformen zu entscheiden (das verstehe ich jetzt besonders gut), dazu war die damalige Führung nicht imstande. Nur nicht das System anrühren, das war die Devise, über die der Machtapparat mit Adleraugen wachte. Deshalb stürzten sie sich auf die damals in Mode gekommenen sogenannten »Zielprogramme«, eine Art Rettungsring, um wenigstens ein Einzelproblem doch noch in den Griff zu bekommen.
Das Land verlor seine Entwicklungsdynamik, die Gesellschaft die soziale Energie, die Politik steckte in der Sackgasse. Ich kann mit absoluter Sicherheit behaupten, dass weder ich noch meine Kollegen die allgemeine Situation als Krise des Systems bewerteten. Aber das Gefühl der sich nähernden Krise, die Vorahnung wuchs.
Die ideologische Maschine arbeitete mit Volldampf, aber sie wurde immer schwerer mit den Problemen fertig, mit dem wachsenden Unwillen der Gesellschaft, die Angriffe von Gegnern abzuwehren. In den Theatern spielte man die Stücke
So siegen wir
von Schatrow,
Der dreizehnte Vorsitzende
von Abdullin und
Das Nest des Auerhahns
von Rosow, in denen die heiklen Fragen unserer Situation aufgegriffen wurden. In der Gesellschaft kursierte eine Unmenge Samisdat-Literatur, inoffizielle Ausstellungen von Künstlern fanden statt. Ihr Hauptanliegen war die Kritik der herrschenden Ordnung, der Wirtschaftsmethoden, ja des gesamten Regimes.
Ausgerechnet in diese Zeit fiel wieder ein Aufenthalt Breschnews im Krankenhaus in der Granowskij-Straße. [24] Sein Zimmer hatte neben einem Behandlungsraum auch einen Raum zum Empfang von Besuchern. Man fand dort bequem Platz, konnte sich unterhalten und Tee trinken. Da trafen wir uns also: Tschernenko, Tichonow, Andropow und ich.
Breschnew war erfreut, empfing uns sozusagen in Hochstimmung, als wolle er demonstrieren, dass es ihm gutgehe. Er machte auch wirklich nicht den Eindruck eines Schwerkranken. Er trug nicht einmal Krankenhauskleidung, sondern eine modische Hose und eine braune Sportjacke mit Reißverschluss. Nur wer ihn kannte und wusste, wie dynamisch er war, dem fiel sein verlangsamtes Verhalten auf.
Wir begrüßten uns, setzten uns um den Tisch und redeten über alles Mögliche, über Gesundheit und die laufenden Angelegenheiten. Dann fragte Breschnew: »Wie sieht es mit der Plenartagung aus?«
Alle drehten sich in meine Richtung.
»Wir bereiten uns vor und sind fast fertig. Das Programm ist ausgearbeitet, das Paket von Erlassen dazu ebenfalls. Was die vorgesehenen Zahlen betrifft: Sie sind realistisch. Nur die Finanzierung ist noch zu regeln.«
Breschnew reagierte sofort. »Natürlich muss die Plenartagung durchgeführt werden. Nur mich habt ihr alle gedrängt und als Referenten bestätigt, ihr selbst aber habt euch nicht auf die Finanzierung geeinigt. Ich kann doch nicht mit leeren Händen auf die Tribüne treten.«
»Leonid Iljitsch, wie kommen Sie denn darauf?«, empörte sich Tschernenko und sprang vom Tisch auf.
»Alles kommt in Ordnung, wir einigen uns schon irgendwie«, schloss sich auch Tichonow an, was bei ihm allerdings nicht besonders aufrichtig klang.
Andropow saß ruhig da, sagte kein Wort und beobachtete nur genau, was vor sich ging. Er wusste schon, dass er auf der bevorstehenden Plenartagung zum Sekretär des ZK gewählt und damit die zweite Figur in der Partei und im Staat werden würde. Auch Tichonow wusste das, denn er schaute während des Gesprächs ständig in Andropows Richtung. Tschernenko erriet, dass er nicht der Nachfolger Suslows würde, weil Breschnew ihm keinerlei Andeutungen in dieser Richtung gemacht hatte. Er litt und war nervös …
Wie sollten wir die Arbeit des Plenums organisieren, um Breschnew den Auftritt zu erleichtern? Wir vereinbarten, den Text des Lebensmittelprogramms und das ganze Paket der Regierungserlasse vorher an die ZK -Mitglieder und die Eingeladenen zu verteilen. Der Generalsekretär würde nur ein kurzes Referat prinzipiellen Charakters halten müssen. Mit diesem Beschluss gingen wir auseinander.
Von der Granowskij-Straße zum Staraja Ploschtschad fuhren Tschernenko und ich im selben Auto. Ich dankte ihm für seine Unterstützung. In Gedanken vertieft, antwortete er: »Das Wichtigste ist jetzt: Handle und nimm auf niemand Rücksicht.«
Ich wusste, dass er Tichonow nicht mochte und auf ihn anspielte.
»Da
Weitere Kostenlose Bücher