Allie setzt sich durch - Band 3
sind zu viele.«
»Ich zertrete sie«, sagte Rosemarie und sah ganz so aus, als meinte sie es ernst. »Die kleinen Ratten!«
Ich war echt froh, nicht zu diesen kleinen Ratten zu gehören. Andererseits wusste ich, dass Gewalt keine Lösung war. Das sagte ich auch Rosemarie.
»Wir haben damit nichts zu tun«, erklärte ich. »Die Jungen sind die Opfer. Sie müssten etwas dagegen tun.«
»Ach, echt«, sagte Rosemarie und verdrehte die Augen. »Da können wir lange warten.«
Es gefiel mir zwar nicht, aber es sah so aus, als würde Rosemarie
recht behalten. Die Jungen fanden tatsächlich keine Lösung für das Problem, obwohl sie das Kuss-Spiel verabscheuten (gut, Patrick Day nicht). Stuart Maxwell vertraute mir mit bebender Stimme an, was für ein Albtraum es gewesen war, als Cheyenne ihn zum ersten Mal für das Kuss-Spiel erwählt hatte. Die Mädchen hatten ihn umzingelt. Und er musste hilflos zusehen, wie Cheyennes Mund seiner Wange immer näher und näher kam, bis der Geruch ihres Cranberry-Lippenbalsams ihn umhaute.
»In dem Moment wusste ich, dass alles aus war«, erzählte Stuart entsetzt.
»Tja«, sagte ich. »Du hättest eben schneller rennen müssen.«
Es tat mir nur ein kleines bisschen leid, ihn nicht gewarnt zu haben. Aber wenn sie nicht gefangen und geküsst werden wollten, hätten sie es doch Mrs Hunter erzählen können. Sie stand in der Pause immer mit den anderen Lehrern am Flaggenmast. Ich hatte selbst gesehen, wie sie die rennenden Mädchen verblüfft beobachtet hatte, als wollte sie herausfinden, was da los war. Jeder Junge, der Cheyenne und ihrem Knutschmund entkommen wollte, hätte einfach zu den Lehrern laufen und sie bitten können, der Sache ein Ende zu machen. Keine Ahnung, warum sie das nicht machten. Vielleicht aus dem gleichen Grund wie ich selbst damals, als ich in meiner Anfangszeit an der Pinienpark-Schule gemobbt wurde. Ich hatte Angst gehabt, alles würde noch schlimmer werden, wenn man Mrs Hunter davon erzählte.
Wenn das Kuss-Spiel schon schlimm für die Jungen war, die gefangen und geküsst wurden (außer für Patrick, dem es ja bekanntlich gefiel), so war es noch schrecklicher für die Jungen, die Cheyenne nicht fangen und küssen wollte.
Einer dieser Jungen war Joey Fields. Ich weiß nicht, was der arme Joey verbrochen hatte, dass Cheyenne sich so gar nicht für ihn interessierte, aber sie behandelte ihn, als hätte er gleichzeitig Windpocken und Masern. Das war richtig blöd, weil Joey so gern von Cheyenne geküsst werden wollte.
Das wusste ich, weil er mich jeden Tag damit nervte. Komischerweise glaubte Joey, ich wäre an diesem Getue um das Kuss-Spiel beteiligt. Deshalb fragte er mir Löcher in den Bauch, zum Beispiel: »Allie, wen jagen sie heute in der Pause?« Oder: »Glaubst du, heute werde ich gejagt? Hoffentlich nicht! Wuff! Wuff!«
Allerdings konnte man deutlich merken, dass Joey sich trotz des dauernden Hoffentlich nicht und des nervösen Gebells danach sehnte, gejagt zu werden. Das merkte ich auch daran, dass er Pfefferminzbonbons mit in die Schule nahm und ständig eins lutschte. Es war traurig und krass zugleich.
Außerdem begann er doch tatsächlich, sich jeden Morgen den Schlaf aus den Augen zu waschen und seine widerspenstigen schwarzen Haare glatt zu kämmen.
Als wäre das nicht schlimm genug, bemühte er sich, einen gewissen Abstand zu den anderen Schülern auf dem Schul - hof zu wahren, damit er ein gutes Ziel für Cheyenne abgab,
wenn sie die Jagd auf ihn eröffnen würde. Statt wie üblich Kickball zu spielen, saß Joey plötzlich allein auf der Schaukel und las ein Buch - oder tat so, als läse er ein Buch. Er schlug es nur auf und beobachtete heimlich die Mädchen, um herauszufinden, ob sie ihn jagen würden oder nicht.
Auf diese Weise wurde mir klar, dass meine Augen mir am ersten Tag, als ich in die letzte Reihe gezogen war, keinen Streich gespielt hatten. Joey Fields war wirklich das andere Kind in Raum 209, das Mrs Hunters Bücher über die Güterwagen-Kinder las. Er hortete sie alle in seinem Pult! Ich erwischte ihn mit den Büchern auf dem Schulhof und manchmal nahm er welche mit nach Hause. Mir war unklar, wie ein Junge, der so merkwürdig war wie Joey, die gleichen Bücher gut finden konnte wie ich.
Außerdem fiel mir einfach nicht ein, wie ich ihn dazu bringen könnte, sie zurückzugeben. In seinem Pult hatte er ungefähr zehn Bände versteckt. Einmal hatte ich ihn darauf angesprochen - »Joey«, hatte ich mit der Stimme der
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