Allie setzt sich durch - Band 3
vernünftigen großen Schwester zu ihm gesagt: ( Manchmal muss man die Stimme der Vernunft benutzen, um zu bekommen, was man haben will. Vor allem von Jungen. Das ist eine Regel. ) » Warum liegen alle Bücher über die Güterwagen-Kinder von Mrs Hunter unter deinem Pult? Die Bücher sind für alle da, wie du weißt. Du solltest eins nach dem anderen ausleihen. Bitte stell sie zurück, damit wir sie alle lesen können.«
Aber Joey stritt alles ab und stellte es so hin, als würde ich mir irgendwelche Dinge einbilden. So ein Lügner!
Lügen ist keine Lösung. Normalerweise . Das ist eine Regel.
Mir ist klar, dass ein Junge wie Joey sich vielleicht schämt, dass er die gleichen Bücher liest wie ein Mädchen. Trotzdem muss er deswegen doch nicht lügen.
Ich freute mich ein wenig, dass Cheyenne Joey nicht küssen wollte und es ihm deswegen schlecht ging. Ich hätte ihn auch nicht küssen wollen (andererseits wollte ich überhaupt keinen Jungen küssen).
So saß ich in der letzten Reihe zwischen einem Jungen, dem es nicht gut ging, weil die Neue in unserer Klasse ihn dauernd küsste, und einem Jungen, dem es nicht gut ging, weil die Neue ihn nicht küssen wollte.
Das war der Beweis für einen Spruch, den Onkel Jay in letzter Zeit ständig von sich gab: Die Welt ist ungerecht.
Es machte mich ganz schön wütend, als ich auf dem Weg zum Musiksaal am Wasserbrunnen im Flur etwas trinken wollte (wie alles an der Pinienpark-Schule sind auch die Wasserbrunnen altmodisch. Hier gibt es keine, wo man nur auf ein Pedal tritt oder einen Knopf drückt, damit Wasser herauskommt, sondern man muss ein seltsames sternförmiges Ding ankurbeln). Da stellte sich Cheyenne hinter mir an (mit Dominique und Marianne im Schlepptau) und fragte hochnäsig: »Trinkst du viel?«, was auf Kanadisch wohl heißen sollte, dass ich zu lange brauchte. Dominique und Marianne lachten.
Ich hörte also auf zu trinken und drehte mich um, wobei ich mir mit dem Handrücken den Mund abwischte, damit ich Cheyenne nicht sagte, sie solle sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern.
Das veranlasste Cheyenne zu sagen: »Sabber ruhig weiter!«
Daraufhin lachten Dominique und Marianne wieder.
Ich schaute Cheyenne nur an, weil mir der Gedanke kam, dass ihr T-Shirt, das sie am ersten Schultag getragen hatte, doch nicht die Wahrheit verkündete. Talent, null Tratsch traf auf sie überhaupt nicht zu. Cheyenne quatschte und tratschte dauernd, so viel war klar. Sie redete die ganze Zeit und wurde von Mrs Hunter ständig wegen Schwätzens verwarnt, doch nie wegen Schwätzens mit ihrer direkten Nachbarin Erica. Sie schwätzte mit Dominique, die hinter ihr saß, oder mit Marianne, die vor ihr saß, oder mit Shamira, die schräg vor ihr saß. Und wenn sie nicht schwätzte, schickte sie ihnen Zettelchen.
An diesem Tag trug sie ein langärmeliges T-Shirt mit Glitzerpünktchen, die das Wort GIRL POWER! ergaben. Mädchenpower traf auf Cheyenne schon eher zu, davon hatte sie ein bisschen zu viel, wenn es nach mir ging.
»Also, was?«, sagte Cheyenne zu mir. »Machst du jetzt Platz?«
Ich wollte schon weggehen, weil es offenbar nichts mehr zu sagen gab, als Cheyenne mir etwas nachrief.
»Hey, Allie«, sagte sie. »Warum spielst du eigentlich nie bei unserem Kuss-Spiel in der Pause mit?«
Ich sah über meine Schulter.
»Weil ich das Kuss-Spiel blöd finde«, antwortete ich. »Warum sollte ich einen Jungen jagen, um ihn zu küssen? Noch dazu einen Jungen aus unserer Klasse. Die sind doch alle eklig.«
Dominique und Marianne kamen aus dem Kichern gar nicht mehr raus, so als hätten sie noch nie im Leben etwas so Komisches gehört.
Auch Cheyenne lachte. »Ach, Allie«, sagte sie, »du bist ja so unreif!«
Nachdem sie das gesagt hatte, ging ich immer weiter bis zum Musiksaal. Dort setzte ich mich neben Erica, Caroline und Sophie, ohne ihnen gleich zu erzählen, was Cheyenne mir vorgeworfen hatte. Aber ich musste immer wieder daran denken.
War ich wirklich so unreif? Eigentlich hielt ich mich sogar für ausgesprochen reif für mein Alter. Im Gegensatz zu anderen Mädchen heulte ich nicht gleich los, wenn ich nicht sofort bekam, was ich wollte. Ich hatte praktisch ganz allein ein zu früh geborenes Kätzchen aufgezogen und gehörte zu den Besten in Rechtschreibung. Außerdem war ich mit Caroline Klassenbeste in Mathe und Bio und kümmerte mich (meistens) rührend um meine kleinen Brüder und sogar um meinen Onkel Jay, der wegen seines Liebeskummers praktisch bei uns
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