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Allmählich wird es Tag: Roman (German Edition)

Allmählich wird es Tag: Roman (German Edition)

Titel: Allmählich wird es Tag: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franka Potente
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rot gemusterten Schürze. Die Schwester dicklich, schweigsam. Das Wohnzimmer die Festung des Vaters.
    Ein Ort, den man mied, wenn er zu Hause war.
    Der Herbst in Jasper war grau, regnerisch. Blätter mussten geharkt werden. Irgendwann begann ihr Husten. Leise hörte er seine Mutter in der Küche. Sie war krank. Als die Diagnose kam, geriet der Vater außer sich, wusste nicht wohin mit seinem Zorn. Dann rührte er sie nicht mehr an. Kam kaum nach Hause.
    Die Schwester und er kümmerten sich um die Mutter. Fuhren sie zum Arzt. Ins Krankenhaus. Führten den Haushalt.
    Das Gesicht der Mutter war blass. Sie schlief den ganzen Tag. Der Arzt sagte, das seien die Nebenwirkungen. Tim half ihr, den Tee zu trinken. Streichelte ihren dünnen Arm. Blaue Adern traten dick unter ihrer durchsichtigen Haut hervor. Der Vater schlief im Wohnzimmer auf der Couch. Erster Schnee. Der Winter kam. Kurz vor Weihnachten.
    An einem Montag bat die Mutter ihn, den Vater zu holen. Widerwillig kam er die Stufen hoch, trat mit hängenden Schultern zu ihr herein. Wie ein Gang zum Schafott.
    Tim wartete mit Agnes auf dem Flur. Sie trauten dem Alten nicht. Drinnen wurde leise gesprochen. Dann eine lange Stille. Als der Vater eine Stunde später leise die Tür schloss, waren die Augen gerötet.
    Am nächsten Tag starb die Mutter.
    Er war zum Weinen auf den Dachboden gegangen. Zusammengekauert hatte er dort gesessen. Agnes blieb bei einer Freundin. Der Vater hatte sich im Wohnzimmer verbarrikadiert. Jeder trauerte für sich.
    Nach der Beerdigung packte Tim seine Sachen. Schaute nicht mehr zurück. Little Rock. College. Alfie. Den Schmerz weggesoffen hatte er. Die Nächte zum Tag gemacht, sich des Abschieds von ihr beraubt.
    Das alles war lange her. Mein Gott, war das lange her. Sein Kopf fühlte sich bleischwer an. Die Stille im Haus wurde plötzlich unerträglich.
    Schon als Kind hatte er es als beruhigend empfunden, das Klappern und Surren der Nähmaschine seiner Mutter zu hören. Nach ihrem Tod hielt die Stille Einzug ins Haus. Unerbittlich und kalt. Sie schnitt ihm ins Fleisch und trieb ihn davon.
    Als er das dritte Album aufschlug, klingelte das Handy. Er legte das Album hin und nahm ab. Larry Greenblatt.
    »Tim! Oy, du alter Schlepper!« Larry sprach laut und schnell. Wie früher. Es tat gut, seine dröhnende, gut gelaunte Stimme zu hören.
    »Wann sehen wir uns?«
    »Wann kommst du?«
    »Nächste Woche, Dienstag oder Mittwoch.«
    »Dann sehen wir uns. Ich hab Zeit.«
    »Wunderbar, mein Fraynd! Ich reserviere was! Lassen wir’s ein bisschen krachen, ja?«
    Tim musste lachen. »Auf jeden Fall.«
    »Warn Liz schon mal vor, dass du spät nach Hause kommen wirst, mein Fraynd.«
    »Liz ist weg.« Es kam bitterer, als er beabsichtigt hatte.
    »Ein Kumpel von mir hat Downtown einen neuen Club aufgemacht, ich mache da was klar …« Larry hatte nicht zugehört.
    »Larry. Liz ist weg.«
    Stille.
    »Was? Weg?«
    »Ja.«
    Larry atmete laut aus. »Oy wey … Das tut mir leid.«
    Es war eine Weile still.
    Ungewohnt leise fuhr Larry fort. »Wir sprechen nächste Woche. Dann erzählst du alles.«
    Situationen wie diese waren nicht Larrys Stärke. Aber er fing sich schnell wieder. »Na, dann erst recht, was? Was, mein Guter? Dann sind wir beiden ja wieder zu haben! Das müssen wir feiern!«
    Larrys dummes Gequatsche tat trotz allem gut in diesem Moment.
    Er wusch sich mit kaltem Wasser das Gesicht. Scotch am Vormittag war keine gute Idee. Er spülte zwei Tylenole mit einem großen Glas Orangensaft herunter.
    Es gab noch vier weitere Alben. Später. Mehr Vergangenheit konnte er jetzt nicht ertragen.
    Er legte sich auf die Couch. Verspürte ein Kratzen in der Kehle. Als er hustete, schmerzte der Hals. Dann suchte er die Fernbedienung und zappte zwei Stunden lang mit leerem Kopf durch die Kanäle. Kochshows, Nachrichten, Realityshows.
    Irgendwann brannten seine Augen. Er fühlte sich fiebrig. Hatte keine Lust zu rauchen.
    Er wünschte, Liz wäre da.
    Verspürte plötzlich das starke Gefühl, um sie kämpfen zu wollen. Sie war schließlich seine Frau! Es gab noch genug, das sie verband. Das Haus, der Sohn, ihre gemeinsamen Erinnerungen.
    Er fühlte sich zu schwach, um zu kämpfen.
    Er holte die Bettdecke. Nieste. Shit, es hatte ihn voll erwischt. Er suchte in der Küche nach Kleenex, als es an der Tür klingelte. Er spähte durchs Küchenfenster. Aida. Er öffnete ihr.
    Sie lächelte ihn an. »Hi, Nachbar!« Sie trug pinkfarbene, enge Shorts, ein schwarzes Tanktop

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