Alltag auf arabisch: Nahaufnahmen von Kairo bis Bagdad (German Edition)
Irakerin Intisar heute, „keiner hat sich Saddam ausgesucht, und nach ihm hatten wir keine andere Wahl als zu flüchten.“
Vielleicht ist es genau das, was die Autoren des UN-Berichtes zur „Entwicklung in der arabischen Welt“, meinen, wenn sie zu deren Beschreibung zu den Sternen greifen: „Der moderne arabische Staat folgt im politischen Sinne einem astronomischen Modell, in dem die Staatsmacht ein schwarzes Loch darstellt, das seine soziale Umgebung in einen Zustand versetzt, in dem sich nichts bewegt und aus dem es kein Entrinnen gibt.“
Medien verkürzen. „Erklären Sie uns den Nahen Osten in 40 Sekunden“, lautet die Aufgabe, die das Fernsehen bei einer Live-Schaltung in eine der arabischen Hauptstädte stellt. „Können Sie uns 80 Zeilen zum Thema Islam, Libanon oder Irak schreiben?“, fragt der Zeitungsredakteur am Morgen. „Kann ich eigentlich nicht“, will ich immer antworten. Die folgende Alltagscollage aus der arabischen Welt, die Nahaufnahmen aus dem Nahen Osten, der Soundtrack aus dem Orient, sind zumindest ein Versuch. Mit dem Blick auf die Alltagsfacetten wird das politische Geschehen nachvollziehbarer als durch manche Analyse und ganz sicher als durch jeden Nachrichtenbericht. Insofern ist dies auch ein politisches Buch, ganz nah am Leben.
Wenn es am Ende dem europäischen Leser seine unmittelbaren und doch so fernen arabischen Nachbarn einen kleinen Schritt näher gebracht hat, dann hat es seinen Zweck erfüllt. Denn wie lautet das arabische Sprichwort, der weise Rat an alle Wohnungssuchenden: „Al-Gar aham min Al-Dar“ – die Nachbarn sind wichtiger als das Haus selbst.
Kairo: „Zu viel ist nicht genug“
Jeden Tag ein Festival voller Widersprüche
Es gibt ihn, jenen paradiesischen Ort, an dem alle Sinnesorgane gleichzeitig beflügelt werden. Es ist ein permanentes Bad der Reize. Manche behaupten dagegen, er käme eher der Hölle gleich, jener Platz, an dem die Rezeptoren 24 Stunden lang an sieben Tagen in der Woche nicht abschalten können.
Die Einwohner des Ortes selbst scheinen sich allerdings nicht mit solch neurologisch-philosophischen Fragen aufzuhalten. „Zu viel ist nicht genug“, lautet das Motto, mit dem die Kairoer ihren turbulenten Alltag bewältigen. Sei es die Lautstärke des Muezzins oder des übersteuerten Autoradios, die schrille Farbe eines Hauses, seien es die vielen bunten Lämpchen, die hektisch blinkend die Neueröffnung eines Ladens ankündigen, oder die mit Glasperlen bestickten goldenen Badeschlappen in der Auslage des Schuhgeschäftes: „Kairo – jeden Tag ein Festival“, verkündet ein Plakat an der Auffahrt zu einer der Nilbrücken im Zentrum der Stadt. Solange es nur laut, bunt und schrill zugeht, so lange ist die Welt am Nil in Ordnung. In der Umm Al-Duniya, der Mutter aller Städte, hat sich diese Lebensphilosophie, voll aufzudrehen, ins Unermessliche gesteigert.
Vereinzelt gibt es Versuche, den Wahnsinn zu messen. Das Nationale Forschungsinstitut veröffentlichte eine Studie, laut der in der Kairoer Innenstadt zwischen 7 und 22 Uhr ein durchschnittlicher Geräuschpegel von 85 Dezibel herrscht. Das entspricht in etwa einem in der Nähe vorbeirauschenden Güterzug. Auf den großen Plätzen und Verkehrsknotenpunkten der Stadt wurden im Schnitt sogar 95 Dezibel gemessen – gleich dem Lärm eines Pressluftbohrers.
Vor der schieren Zahl der Menschen, die die Nilmetropole ihr Zuhause nennen, gehen die Statistiken in die Knie. Sie lässt den Atem stocken. Etwas mehr als 18 Millionen, hieß es bei der letzten Volkszählung, die allerdings bekannt dafür ist, dass sie beileibe nicht alle zählt (siehe Seite 106 ff.). Und dann sind da noch weitere zwei bis drei Millionen Pendler aus der Umgebung, die jeden Tag in die Hauptstadt zur Arbeit pilgern. Wie viele Kairoer es auch immer sein mögen, stets hat man das Gefühl, dass sie alle da sind, immer und überall, unmittelbar auf Tuchfühlung, wo man sich selber gerade befindet. Sei es, dass sie mehr oder weniger geduldig im Stau in der Innenstadt auf die ersehnte Weiterfahrt hoffen, sei es, dass sie als Traube vor dem Schalter einer Amtstube warten und versuchen, alle gleichzeitig die Aufmerksamkeit eines einzigen Beamten zu erhaschen, sei es, dass sie sich in einen U-Bahn-Wagen quetschen. Jede Fahrt, jede Erledigung ist eine gefühlte Überbevölkerung. Wenn das Münchener Olympiastadion mit 70 000 Menschen ausverkauft ist und man die Zuschauer auf dessen ganzer Fläche, einschließlich des
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