Almas Baby
können das. Aber auf die, die nicht kaufen können und auf das, was man nicht kaufen kann, kommt es doch ohnedies nicht an.
Ein Wandel, der sich allerdings erst lange nach Almas Zeit auf dem Nordstadtstrich vollzog. Damals war das Projekt „Unsere Stadt soll schöner werden“ noch nicht angelaufen und das Wort Ekelhäuser total unbekannt. Für Alma war die Ravensberger Straße mit den gammeligen Verrichtungsboxen noch altbekanntes Terrain. Schließlich hatte sie damals dort für den schönen Mirko angeschafft, denn der gewährte ihr dafür Unterkunft. Wo hätte sie denn sonst bleiben sollen, nachdem sie ihre Lehre geschmissen und ihr Vater sie deswegen aus dem Haus geprügelt hatte? Das Heroin half ihr, den Ekel vor dem zu überwinden, was sie zu tun hatte, um Freier und Zuhälter zufriedenzustellen. Alles lief gut - dachte sie wenigstens. Bis zu jener Nacht, in der Mirko sie an den inzwischen wieder lang gewachsenen Haaren auf den Parkplatz hinter den Baumarkt schleifte.
Dort warteten drei seiner Kumpel, die er aufgefordert hatte, das Pferdchen mal richtig zuzureiten, „damit die taube Nuss endlich begreift, wie der Laden hier zu laufen hat. Ein Huhn, das keine goldenen Eier legt, kann ich nicht brauchen.“
Die Jungs sahen das ein und ließen sich nicht lumpen. Als sie fertig waren, urinierten sie noch auf ihr blutendes Opfer, das zusammengekrümmt vor ihnen auf dem Boden lag. In jener Nacht hatte sie sich geschworen, ihr Leben zu ändern - koste es, was es wolle.
Sie hatte es versucht und sich verdammt viel Mühe gegeben. Zuviel Mühe, als dass alles hier in der muffigen Laube einer Nordstadt-Kleingartenanlage enden sollte. Es musste einfach irgendwie weiter gehen.
Das Baby war endlich eingeschlafen. Sie nahm es vorsichtig hoch, ging auf die Tür zu und dann plötzlich wie im Kino: Spot an!!! Das Innere der Laube präsentierte sich in seiner ganzen Schäbigkeit im gleißenden Scheinwerferlicht. Und eine Megafon-Stimme versuchte ihr von draußen Anweisungen zu geben. So, wie jeder bisher versucht hatte ihr zu sagen, was sie zu tun und zu lassen habe. Selbst Berthold. Aber damit musste nun endgültig Schluss sein. Sie nahm das Messer vom Tisch, das sie aus Mirkos Wohnung heimlich mitgenommen hatte und tat, was sie tun musste. Dann stolperte sie mit letzter Kraft vor die Tür ins gleißende Licht und streckte dem auf sie zu stürzenden Polizisten die Arme mit dem blutbesudelten Bündel entgegen - Sekunden, bevor ihre Knie unter ihr einknickten.
Kapitel 1
Die alte Judith sitzt abends gern vor dem Fernseher. Raucht Kette und trinkt Rotwein. Sobald ihr Kater sich zu ihr herab lässt, streichelt sie selbstvergessen sein schwarzes Fell und freut sich über sein Schnurren. Manchmal, wenn ihr das Fernsehprogramm nicht zusagt, schiebt sie eine Kassette in den Videorekorder - mit irgendeinem alten Schinken. Aufgenommen in Nächten, in denen ihre Augen zu müde waren, um noch in die Glotze zu schauen. Oder wenn sie Angst hatte, dass die Nachbarn hätten mithören müssen, was sie nicht mithören wollten. Denn meistens war er wohl zu laut in der sonst so erschreckend stillen Wohnung - der Fernseher. Damals, als sie noch jung war, hatte die Judith Ohren wie ein Luchs. Das meinten jedenfalls die Leute. Aber im Alter nimmt eben alles ab. Sogar das Gefühl, am Leben zu sein.
Aber seit gestern spürt sie es wieder. Seit die junge Frau von oben mit dem Baby nach Hause gekommen ist. Sie hat das Kleine weinen gehört. Ganz zart, aber deutlich. Noch auf der Treppe. Dann ging oben die Tür zu, und alles war ruhig. Ein Baby im Haus ist etwas Besonderes. Vielleicht braucht die junge Frau ja mal jemanden, der ab und zu aufpassen kann auf ihr Kind. Nur für einen Moment - wenn sie in die Bäckerei schräg gegenüber geht, um Brötchen zu holen. Dann könnte die Judith doch … Ja, das kann sie bestimmt. Nur ganz kurz, für ein paar Minuten.
Was es wohl ist? Ein Mädchen oder ein Junge? Ein Mädchen wäre schön. Jungs sind so krabätzig, wenn sie groß werden. Aber so eine hübsche kleine Prinzessin würde bestimmt auch mal mit der Judith reden. Falls die noch am Leben ist, wenn das kleine Fräulein sprechen gelernt hat.
In der Nacht hört sie es wieder, das leise Wimmern von oben. Schlafen kann sie nicht. Sie liegt starr auf dem Rücken in ihrem Bett und lauscht. Den Fernseher mag sie nicht einschalten. Er könnte ja stören. Was kann dem Baby nur fehlen? Vielleicht hat es Bauchweh. Das haben so kleine Würmchen schon mal.
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