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Als das Leben ueberraschend zu Besuch kam - Roman

Als das Leben ueberraschend zu Besuch kam - Roman

Titel: Als das Leben ueberraschend zu Besuch kam - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caroline Vermalle
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dieser Küche, wo Meeresspinnen ihre roten Bäuche zeigten. Was wusste sie von dieser alten Cousine, außer dass sie vor langer, langer Zeit jung und eine Schönheit gewesen war und dass sie jetzt gemeinsam mit einer einsamen Zigeunerin Menschen aufnahm, die Hilfe brauchten? Sie beobachtete die beiden Frauen, die über Rezepte sprachen, während sie die Panzer aufbrachen. Jacqueline schaute auf Nanes Hände – groß, grau und rissig –, auf denen Fleisch klebte, das nach Meer roch. Dann schaute sie auf Armindas abgekaute Fingernägel und ihre jungen Hände, die vermutlich durch die viele Hausarbeit rot und rissig waren. Schließlich senkte sie den Blick und betrachtete ihre eigenen Hände. Sie waren alt, zart und rosig, mit wertvollen kleinen, alten Edelsteinen verziert und dufteten nach Orangenblüte. Und in den Falten, in den winzigen Furchen sah sie das Leben, das sie auf den Schienen des Festlandes zurückgelassen hatte. Jacqueline faltete ihre Hände und legte sie auf die alte Wachstuchdecke.
    »Das ist nett von dir, Nane«, flüsterte sie. »Und ich störe dich wirklich nicht?«

6
    »Hab ich dir schon mal erzählt, wie es dazu kam, dass mir die Priesterwürde aberkannt wurde?«, fragte Paul, der in Marcels düsterem Esszimmer saß. Marcel stand mit hängenden Schultern am Fenster.
    »Falls du die Geschichte noch nicht kennen solltest«, fuhr Paul mit aufgesetzter Fröhlichkeit fort, »muss ich sie dir unbedingt erzählen. Solche Geschichten hört man nicht alle Tage. Das kannst du mir glauben, mein Freund.«
    Doch Marcel hörte ihm gar nicht zu. Er beobachtete Kaikias, der mit dem schlechten Wetter spielte.
    Seit einer Stunde regnete es in Strömen, und immer wieder fegten starke Windböen durch den Ort. Kaikias, der Nordostwind, schien die Welt in zwei Lager geteilt zu haben: Reglos die schweren Dinge – Leitungsmasten, niedrige Häuser, Baumaschinen und Straßen –, als wären sie in einem Schraubstock eingespannt. Wild und widerspenstig die unzähligen leichten, vergänglichen Dinge, das Laub der Bäume, das Gras am Straßenrand, ein vergessener Teppich auf einer Wäscheleine, das Haar der Nachbarin, die ein Fenster öffnete, um einen klappernden Fensterladen zu befestigen. Kein glücklicher Mensch inmitten des Sturms, und in dem Haus in Erquy bedrückende Stille.
    »Zweihundertmal«, erwiderte Marcel schließlich.
    Paul beobachtete seinen Freund, der zurückkehrte und sich vor seinen kalten Kaffee setzte. Als er den Stuhl heranzog, schnarrte er über die Terrakottafliesen.
    »Zweihundertmal hast du mir die Geschichte bestimmt schon erzählt.«
    Paul hätte gerne zu ihm gesagt: »Mach dir keine Sorgen. Sie kommt wieder zurück«, doch alle hier wussten, dass Jacqueline nicht zurückkommen würde. Es war so, als hätte Kaikias ihnen alles zugeflüstert, was sich auf der Ile d’Yeu abspielte. Denn Kaikias blies kräftig und pfiff durch alle Öffnungen des Hauses. Es war wirklich keine schöne Melodie, deren Rhythmus von zuschlagenden Türen und knarrenden Dachböden bestimmt wurde. Der Refrain, der sich immer wiederholte, bestätigte in Marcels Augen, dass man einen sechsundsiebzigjährigen Mann nicht verließ. Denn es war für immer. Marcel nahm den kleinen Löffel, rührte den Kaffee um und legte ihn wieder auf den Tisch.
    Jacqueline war gegangen, und Paul wusste, dass sie unter alles einen Schlussstrich gezogen hatte. Es ging nicht nur um Marcel, sondern um ihr ganzes Leben hier. Sie hatte ihr Handy zurückgelassen, und das war der Beweis. Die Gewissheit, dass diese Flucht auch ihn betraf, schmerzte Paul, und das mehr, als Marcel sich vorstellenkonnte. Im Augenblick dachte er aber nur an seinen alten Freund, der Trost brauchte.
    »Okay, ich erzähle sie dir trotzdem. Vielleicht habe ich sie dir schon zweihundertmal erzählt, aber es könnte ja sein, dass ich etwas ausgelassen habe.«
    Marcel hob den Kopf und schaute seinen Freund an. Paul traten plötzlich alle Abschnitte von Marcels Leben gleichzeitig vor Augen, und das versetzte seinem Elan einen Dämpfer. Es gab viele Phasen, in denen er unglücklich gewesen war, vielleicht nicht mehr als bei anderen, aber auch nicht weniger. Und es schien so, als präsentierte das Leben ihm heute die Rechnung. Paul fuhr fort.
    »Ich war gerade zum Priester geweiht worden und unglaublich stolz. Kein Wunder. Ich war dreiundzwanzig Jahre alt und damit der jüngste Priester in der Gegend. Und dann eines schönen Tages ...«
    »... hast du deine Frau kennengelernt, die

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