Als das Leben ueberraschend zu Besuch kam - Roman
großen Zehen herausguckten. Jacqueline, die ihre Füße sorgfältig pflegte, fandden Anblick nahezu unerträglich. Nanes Stimme hatte sich ebenfalls verändert. Sie klang nicht mehr so hochmütig und verführerisch wie damals. Und dieser wache, rebellische Geist war einer plumpen Spottlust gewichen, mit der sie ihre Cousine ein ums andere Mal brüskierte.
Und doch spürte Jacqueline tief in ihrem Inneren, dass es tatsächlich Nane war. Wenn Nane ihr nach sechsundfünfzig Jahren auch wie eine Fremde erschien, vermittelte sie Jacqueline dennoch ein vertrautes Gefühl, dessen sie sich zu erwehren versuchte: Bewunderung. Schon von jeher empfand sie Bewunderung für Nane, und dieses Gefühl verstärkte sich in der Jugend noch. Der Bewunderung haftete eine Spur Eifersucht auf ihre Cousine an – eine so bemerkenswerte, extravagante Frau. All diese naiven Gefühle, die sie glaubte, im Château de Montrie zurückgelassen zu haben, fand Jacqueline nun unverändert in der Villa Jolie Fleur wieder.
Jeder konnte sicherlich verstehen, dass man einer aristokratischen Amazone von dreiundzwanzig Jahren ähneln wollte, die vor Leidenschaft und Mut strahlte. Doch nun konnte Jacqueline sich die Gründe für ihre Schwärmerei nicht mehr erklären. Daher war Nane, die mit dieser Zigeunerin unter einem Dach lebte und Jacqueline Le Gall niemals hätte beeindrucken können, nun das reinste Mysterium für sie. Nane wollte sie in zwei Stunden mit dem Wagen abholen. Jacqueline war nervös. Jetzt würde sie erst einmal frühstücken gehen.
Eine halbe Stunde später kehrte Jacqueline in ihr Hotelzimmer zurück. Es lag noch immer eine lange Wartezeit vor ihr. Sie ging ins Badezimmer, zog den Lippenstiftnach, überprüfte, ob der Koffer richtig verschlossen war, schaltete den Fernseher ein und sofort wieder aus. Dann blätterte sie in einer Broschüre über die Ile d’Yeu und im Fernsehprogramm. Die Zeit verging. Schließlich öffnete Jacqueline das Fenster, das auf der Seite des kleinen Hafens lag. Dort herrschte bereits ein Treiben wie in einer Großstadt. In der Hoffnung, das flaue Gefühl im Magen und die Angst zu vertreiben, atmete sie tief ein. Um zu vergessen, was auf sie zukam, versuchte Jacqueline, sich in die Farben zu vertiefen, die in der Junisonne leuchteten. Weiße Wolken am blauen Himmel, und immer schwebten ein paar Möwen durch die Luft. Der Rost der Autos, die zahlreichen bunten Fahrräder mit Kindern auf den Kindersitzen. Die marineblauen Mützen der alten Fischer auf den Mofas. Ab und zu ein Mast hinter dem kleinen, alten Leuchtturm. Das türkisblaue Meer, die grün-weißen Boote mit den gelben Fahnen. Die beiden roten Herzen der Vendée auf weißem Grund. Und dieses fantastische klare Licht, das die Menschen glauben ließ, das Glück sei allgegenwärtig.
Gedankenverloren betrachtete Jacqueline die Männer in den großen gelben Stiefeln, die ihre Fische an Frauen verkauften, als sie plötzlich eine Hupe hörte. Sie schaute hinunter zum Eingang des Hotels. Aus einem unglaublichen Wrack, das früher einmal ein R5 gewesen war, sah sie Nane aussteigen. Jacqueline bekam wieder Magenkrämpfe. Jetzt war der gefürchtete Augenblick gekommen. Mit kalten, feuchten Händen schloss sie das Fenster, nahm den Koffer, die Handtasche und ihre Strickjacke. Ehe sie das Zimmer verließ, schaute sie sich noch einmal um.
Hatte sie auch nichts dagelassen?
Doch, alles. Sie wollte ein neues Leben beginnen. Jetzt begann es.
Jacqueline verließ das Zimmer, ohne den Eulenfalter mit den braunen Flügeln bemerkt zu haben, der sich hinter dem Vorhang versteckt schlafend stellte.
8
Die Geschichten, die der Eulenfalter im Hotel Atlantic erzählte, haben uns Schmetterlinge wahrlich beeindruckt. Die geflügelten Gäste des Sommerflieders, dieses Baumes mit den violetten Blütenständen, schwirrten ungeduldig umher, als sie erfuhren, dass die rätselhafte Jacqueline sich bei uns einnistete.
Vielleicht wundern Sie sich über das lebhafte Interesse. Die meisten Menschen meinen, wir würden in unserer Ecke Nektar sammeln, und der Rest der Welt interessiere uns nicht. Wenn sie wüssten, wie sehr wir uns an den mitunter sonderbaren Szenen erfreuen, die sich in unseren Gärten abspielen! Die Menschen sind zwar zivilisiert, haben aber nur zwei Augen. Wir haben alle Tausende. Ganz zu schweigen von den anderen Sinnen, die die Menschen mit ihren großen Gehirnen vor Neid erblassen ließen, und von unserer Beziehung zu den Winden. Sie wissen fast alles, diese
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