Als das Leben ueberraschend zu Besuch kam - Roman
viele Dinge über die ehemaligen Schüler einer Handelsschule in Chartre, über die Bedingungen einer Mitgliedschaft bei den zahlreichen Internetdiensten, die bei der Suche nach früheren Freunden behilflich waren; über den Umtrunk eines Chores aus Quimper und sogar über die fantastischen Siege einer Amateur-Handballmannschaft aus La Réunion, doch nichts über seine Frau. Später folgten dann Seiten über andere Leute, die ebenfalls Le Gall, aber nicht Jacqueline,oder Jacqueline, aber nicht Le Gall hießen. Die Suche hatte nichts gebracht.
Obwohl Marcels gesunder Menschenverstand sich widersetzte, tippte er »Jacqueline Darginay de Boislahire« ein. Wie unangenehm ihm der Mädchenname seiner Frau war. Marcel bedauerte seine Neugier sofort. Doch nun war es geschehen, und ihm wurden zweihundert Seiten der ruhmreichen Geschichte dieser großartigen französischen Familie angeboten, ihre Wappen, ihre Ländereien und so viele Stammbäume, so viele ... Eine perfekte und komplizierte Familienforschung entfaltete sich in prächtigen Linien, die von den Titeln und den weit zurückliegenden Daten fast erdrückt wurden. Google sprach von jenen Darginays, den Chevaliers de Boislahire, die sich durch die Ehen ihrer Töchter mit anderen, ebenso bedeutenden Geschlechtern verbanden. Bei Wikipedia fand Marcel neben anderen Heldentaten vergangener Zeiten auch die traurige und ruhmreiche Geschichte von Léonie und François Darginay de Boislahire, Onkel und Tante von Jacqueline, Helden der französischen Widerstandbewegung, gefallen für Frankreich in der Blüte ihres Lebens, wenige Tage vor der Landung der Alliierten. Doch in all diesen Biografien und genealogischen Darstellungen, in denen Jacqueline Héloïse Léonarde DARGINAY de BOISLAHIRE *1936 auftauchte, wurde nirgendwo Marcel LE GALL erwähnt, der Ehemann von ... Nirgendwo.
Ein Groll, den er längst überwunden glaubte, drang durch diese Links wieder an die Oberfläche. Die Erinnerung an ihre Hochzeit in einer leeren Kirche in der Touraine, durch die die nichtssagenden Worte des lethargischen Priesters hallten, der die Predigt hielt. Niemand war eingeladen worden – eine der Bedingungen dieser Verbindung. Keine Blumen, kein Hupen, kein Fotograf. Nur das Brautpaar, Gott, ihre Eltern und die vorgeschriebenen Trauzeugen, deren Namen Marcel vergessen hatte. Jacqueline in einem weißen Spitzenkleid, jung, hübsch, in sich gekehrt. Den Vater Le Gall erfüllte diese unverhoffte Verbindung mit Stolz. Er streckte die Brust heraus und schaute lächelnd in die ungeduldigen Gesichter der Darginays. Und seine Mutter, der versichert worden war, dass ihr Marcel an diesem Tag in die bessere Gesellschaft aufstieg, trauerte der schönen Hochzeit hinterher, die sie sich für ihren einzigen Sohn erhofft hatte. Was für einen Makel verbarg ihre Schwiegertochter tief in ihrem Inneren, dass die Eltern der Hochzeit zwar zustimmten, es aber nicht ertrugen, dass sie gefeiert wurde? Marcel erfuhr es nie, und die Jahre gingen darüber ins Land.
Und dahin hatte all das fünfundfünfzig Jahre später geführt. Versunken in die bitteren Wahrheiten aus alten Archiven klickte Marcel immer wieder auf Links, die alle dasselbe erzählten: Er hatte niemals zu der Familie seiner Frau gehört. Sein Rücken und der Hals schmerzten, der Gaumen klebte und die Augen brannten. Dennoch klickte seine Hand immer wieder auf neue Links. Nach dem x-ten Klick wurde eine Seite geöffnet, die anders aussah als die anderen und ihm den Atem nahm. Er schaute auf ein Foto der lächelnden Jacqueline – energiegeladen und im Schick der Sechzigerjahre –, unter dem stand: »Die Patin unserer Schule in Benin«. Und ehe Marcel den Rest der Seite lesen konnte, ertönte plötzlich eine Musik, derenFröhlichkeit ihm unerträglich war. Die schwungvollen afrikanischen Klänge hallten durch die Küche, durch das Haus, durch die bretonische Nacht und über alles hinweg, was sich in der Dunkelheit verbarg. Marcel trommelte wie ein Verrückter auf die Tastatur, um diesen Lärm zum Verstummen zu bringen, aber die dröhnende, feurige Musik hielt an. Schließlich klappte er den Laptop laut zu, und alles wurde still. Doch auch jetzt hallte die Melodie noch durch Marcels Kopf. Sein Herz klopfte, seine Ohren pfiffen, und er hatte nur einen einzigen Gedanken:
In Benin???
9
»In Benin?«
Sie standen im Eingangsbereich der Villa Jolie Fleur , und Nane starrte ihre Cousine mit großen Augen an.
»Ich bezahle dir das Gespräch natürlich«,
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