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Als das Leben ueberraschend zu Besuch kam - Roman

Als das Leben ueberraschend zu Besuch kam - Roman

Titel: Als das Leben ueberraschend zu Besuch kam - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caroline Vermalle
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Schwelle unseres Hauses. Es war der Tag vor meinem vierzigsten Geburtstag. Keiner von uns brachte ein Wort heraus. Ich werde diesen Blick niemals vergessen. Es war so, als würde er alles umfassen, die Gegenwart, die Vergangenheit, mein ganzes Sein ... Ich habe niemals erfahren, was er mir sagen wollte, denn in dem Augenblick kam Marcel dazu. Die beiden unterhielten sich und wurden später Freunde. Ob du es glaubst oder nicht, aber es vergingen über dreißig Jahre, und wir haben niemals darüber gesprochen. Ich sah Paul hier und da, doch nur, wenn wir alle zusammen waren, wie zum Beispiel an den Geburtstagen. Ein Kuchen, der gegessen wird, um die Zeit zu feiern, die vergeht. Nach jedem Geburtstag, den wir gemeinsam feierten, nahm ich fünf Kilo ab. Paul hat immer zu Marcel gesagt, seine Versetzung in die Bretagne sei ein glücklicher Zufall gewesen, aber ich habe es nie geglaubt. Ich glaube, dass er so gewissermaßen sein Versprechen gehalten hat und gekommen ist, um über mich zu wachen, er und seine Sterne. Wer weiß ... Woher sollte ich es auch wissen? Wir haben nie darüber gesprochen.«
    Jacqueline setzte sich neben Nane auf einen Stuhl und legte das Handtuch und die Schere auf ihren Schoß.
    »Irgendwann habe ich mir dann gesagt, dass der liebe Gott es so für uns bestimmt hatte, und ein Tag reihte sich an den anderen. Die Tage vergingen, die Jahre ... Bis zum letzten Monat. Marcel ließ seine Prostata untersuchen. Wir erfuhren, dass es an ihm lag, dass wir keine Kinder bekommen hatten. Es war nicht meine Schuld.«
    Dicke, heiße Tränen rannen über die feinen Falten auf Jacquelines Wangen. Ihre schmalen Schultern bebten, und sie schluchzte laut. Mühsam stand ihre Cousine auf und schloss sie in ihre müden Arme. Als Nane Jacqueline an sich drückte, knisterte der Zeitungsartikel in ihrer Schürzentasche.
    Schließlich trocknete Jacqueline ihre Tränen und schaute Nane in die Augen.
    »Du hast dich bestimmt gefragt, warum ich mich nie mehr gemeldet habe. Meine Mutter hatte mir verboten, dich zu sehen, aber es wäre gelogen, wenn ich behaupten würde, das sei der Grund gewesen. Weißt du, in diesem Herbst 53 hast du den nötigen Mut aufgebracht, aber ich nicht. Ich habe so oft an dich gedacht, meine Nanette, in all den Jahren. Du hast mir furchtbar gefehlt. Aber immer, wenn ich an dich und an dein Glück mit Aleksander dachte, sah ich, was ich verloren hatte, als ich zuließ, dass meine Mutter mich zu dieser Frau in die Spülküche brachte. Ich musste auch irgendwie versuchen, in diesem Leben glücklich zu werden, Nane ...«
    Jacqueline schaute auf das Fenster und dann auf ihre runzeligen Hände.
    »Als ich bei dir angekommen bin, dachte ich, ich könnte noch mal von vorn beginnen. Ich glaubte, ich könnte vielleicht etwas von dem Mut erben, den du hattest und der mir vor sechsundfünfzig Jahren fehlte. Doch nun sind die Würfel gefallen. Es kann keinen Neuanfang mehr geben.«
    Während Jacqueline unter Tränen lachte, umfasste sie Nanes Schultern und betrachtete die neue Frisur.
    »Du siehst zehn Jahre jünger aus. Der Schnitt ist mir wirklich gelungen.«
    Nane zog den Zeitungsartikel aus der Schürzentasche. Den Artikel über Marcel hatte sie abgerissen, und Jacqueline las das, was übriggeblieben war. Sie sank auf Nanes Stuhl und presste eine Hand auf den Mund. Es waren Todesanzeigen. Renée Charon, geb. Besso, war am 20. Juni in Erquy verstorben. Ihre Kinder und ihr Ehemann, Paul Charon, trauerten um sie.
    Wie versteinert starrte Jacqueline auf das zerknitterte Papier.
    »Wenn du intensiv nachdenkst, gibt es schon noch Dinge, die du neu beginnen kannst. Aber ich habe es dir gesagt, meine Liebe. Die Zeit ist zu knapp, um andere für dich die Entscheidungen treffen zu lassen. Die Zeit ist zuknapp, um feig zu sein.«
    Später schaute ich zu, wie die beiden Cousinen sich im Spiegel betrachteten. Nane lächelte über den neuen Haarschnitt, der ihr schiefes Gesicht viel jünger aussehen ließ. Es erheiterte mich, als ich Matthis in seinem Spiderman-Pyjama blitzschnell davonflitzen und ins Bett hüpfen sah, wo er längst hätte liegen sollen.

48
    Am nächsten Morgen schlug Jacqueline noch vor dem Sonnenaufgang die Augen auf. Sie hatte die ganze Nacht durchgeschlafen. Als sie erwachte, kam ihr der Tag ungewöhnlich vor und das Gartenhaus wie ein schönes Geheimnis. Während sie reglos im Bett lag, versuchte sie, sich an die letzten Tage zu erinnern. Dann fiel ihr der gestrige Abend wieder ein, die Fadomusik, die

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