Als das Leben ueberraschend zu Besuch kam - Roman
entbinden zu lassen, um mich zu heiraten und das Kind anzuerkennen. Paul hielt Wort und leitete die notwendigen Schritte beim Bischof ein. Doch es dauerte seine Zeit, und meine Mutter sagte, wir hätten keine Zeit zu verlieren. Die Leute in Montrie begannen zu reden, und darum tat meine Mutter das, was getan werden musste.«
Nanes feines Haar glitt zwischen Jacquelines Fingern hindurch.
»Es war der 12. Oktober. Weißt du, woran ich michnoch erinnere? Es ist seltsam, was man im Gedächtnis behält. Ich erinnere mich an den Hut meiner Mutter, die vor mir saß in dem großen Citroën-Kastenwagen, in dem normalerweise Tiere transportiert wurden. Ich erinnere mich an ihre Perlenkette und den Nerzkragen. Mutter Lesage hatte uns ermahnt, dass wir auf keinen Fall auffallen dürften, denn eine Frau aus Amboise, die auch Abtreibungen vornahm, war gerade geschnappt worden. Alle waren äußerst nervös. Mutter Lesage schickte also ihren Sohn, und er holte uns mit dem Kastenwagen in Montrie ab. Stell dir vor, wir hätten die Limousine meines Vaters mit seinem Chauffeur genommen. Dann hätten wir auf jeden Fall Aufsehen erregt. Ich saß hinten auf einem Strohsack. Und meine Mutter saß vorne, behangen mit ihrem wertvollen Schmuck und in ihrer feinsten Garderobe. Ich war so damit beschäftigt, sie zu hassen und an die Schmerzen zu denken, die mich erwarteten, dass ich mir um das Kind gar keine Gedanken machte ... Ich dachte nicht daran, nein, im Grunde nicht, ich war siebzehn ... Man denkt erst später daran.«
Wieder fielen ein paar nasse Strähnen auf Nanes Schultern.
»Es dauerte über ein Jahr, bis Paul von seinem Priesteramt entbunden wurde. Natürlich war es zu spät. Meine Eltern hatten Marcel bereits meine Hand versprochen. Sie sagten, dass ihr Schwiegersohn eine großartige Karriere bei der Armee machen würde. In Wahrheit hatten sie Marcel ausgewählt, weil er ein Niemand war. Ein Mann, den niemand kannte und über den die Leute nicht reden konnten. Mutter wusste, dass seine Familie keine Fragenstellen würde. Für sie war das einzig Wichtige, dass ich schnell unter die Haube kam. Paul hatte ohne die Kirche und ohne seine Gemeinde nichts vorzuweisen. Für meine Eltern stand sowieso fest, dass er nichts taugte, und sie verboten mir, ihn weiter zu sehen. Ich sagte mir, dass ich mit Marcel gar keine so schlechte Partie machen würde. Es ist schon verrückt, was man sich in jungen Jahren alles einreden kann.«
Jacqueline legte die Schere aus der Hand. Der Haarschnitt war fertig und das Haar schon fast trocken. Es herrschte Stille. Im goldenen Licht der Deckenlampe, das sich auf der Fensterscheibe spiegelte, leuchteten Jacqueline und Nane in der Dunkelheit wie auf einem Gemälde von Rembrandt. Während Jacqueline Nanes Haar kämmte, fuhr sie fort.
»Vielleicht hätte es eine glückliche Ehe werden können, wenn wir Kinder gehabt hätten, wer weiß. Ich habe Marcel niemals gesagt, dass wir keine Kinder bekommen konnten, weil ich bei einer Engelmacherin, deren Hände nach Zwiebeln rochen, in der Spülküche auf dem Tisch gelegen hatte. Darum bestand meine Mutter hartnäckig darauf, dass ich all dieses Zeug aß. Bis zu ihrem Tod wollte sie nicht wahrhaben, dass es auch ihre Schuld war, dass ich keine Kinder mehr bekommen konnte. Ich habe oft an dieses Kind gedacht, das an jenem Oktobertag abgetrieben wurde. Es wuchs mit uns auf, und die Dinge, die immer unausgesprochen zwischen uns standen, wuchsen mit. Im Februar wäre mein Kind sechsundfünfzig geworden, aber für mich bleibt es immer mein kleines Baby ... Manchmal spreche ich mit ihm. ›Mein armer, kleinerLiebling‹, sage ich manchmal. Es ist verrückt, in meinem Alter ... Ich musste meiner Mutter versprechen, es niemandem zu sagen. Ich musste es schwören. Heute Abend spreche ich zum ersten Mal darüber, Nane.«
Nane hatte plötzlich das Gefühl, ihre Kehle würde brennen. Ohne sich umzudrehen, legte sie eine Hand auf ihre Schulter, dort, wo Jacquelines Hand lag. Während Armindas und Brunos Liebe an einem anderen Ort wie ein Feuer brannte, erwachte hier die Zärtlichkeit zweier alter Damen, die immer jung geblieben war, zu neuem Leben. Nane wusste aber, dass Jacqueline ihr nicht alles erzählt hatte. Während die Nacht und die Insekten die Fadomelodie spielten, nahm Jacqueline das Handtuch und wischte Nane die restlichen Haarschnipsel vom Kopf. Ihre Stimme, die nach den richtigen Worten suchte, drohte zu versagen.
»Und Paul ... Eines Tages stand er auf der
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