Als das Leben ueberraschend zu Besuch kam - Roman
Nane ihn.
»Das glaube ich gern. Sie sagen sich, dieser Bruno will mich doch bloß um den Finger wickeln. Sie haben sich also noch nicht mit der Frage beschäftigt. Ich aber schon. Und ich sage Ihnen, dass es hier auf der Insel keinen Mann gibt, der sie verdient hat. Und auch nicht auf dem Festland. Ich war zwar noch nicht überall in Frankreich, aber die Menschen kenne ich dennoch. Und ich habe noch nie einen Mann getroffen, der gut genug für sie wäre. Man kann sich also an fünf Fingern ausrechnen, dass sie eines Tages bei einem Trottel landet. Und ich bin ganz verrückt nach ihr, seitdem sie vor sechs Monaten Meeresspinnen bei mir gekauft hat. Deshalb habe ich mir gesagt, bevor sie ihr Leben mit einem Trottelverbringt, ist es mir lieber, dass sie mit mir zusammen ist. Ich weiß wenigstens, dass ich sie nicht verdient habe. Es wäre doch jammerschade, wenn sie bei einem Mann landet, der glaubt, er hätte sie verdient, oder? Ein Gläschen Portwein?«
Nane kapitulierte, noch bevor sie den Portwein tranken. Nach dem Aperitif stieg Arminda auf Brunos Motorrad, und ihr schöner Zopf wehte im Wind. Alle im Haus – sogar Matthis – wussten, dass sie bei ihrem Fischhändler bleiben würde.
Nane, Jacqueline und Matthis aßen gemeinsam. Jacqueline entging nicht, dass das Essen weniger aufwändig war als gewöhnlich. Bevor Arminda mit Bruno weggefahren war, hatte sie für Matthis panierten Fisch und Kartoffelbällchen aus der Tiefkühltruhe genommen. Zum Nachtisch bekam er Schokoladenpudding aus dem Supermarkt. Nane beschloss, dass die Erwachsenen dasselbe aßen. Während des Essens wurde nicht viel gesprochen, und Jacqueline fand die Stille entspannend. Matthis wollte nicht schlafen gehen, und Nane erlaubte ihm, noch ein bisschen zu spielen, während Jacqueline aufräumte.
Es war einer dieser Abende, an denen die blaue Stunde kein Ende zu nehmen schien. Ein schwacher Wind wehte sanft die Gardinen ins Zimmer. Draußen hörte man Geräusche von uns Schmetterlingen, von Heuschrecken und Maikäfern. Ich ließ mich auf meinem Sommerflieder nieder, doch meine Flügel waren schwer, und ich spürte jeden Flügelschlag. Schließlich ließ ich mich vom Wind treiben und schlug nicht mehr mit denFlügeln. Jacqueline kam aus dem Haus und ging in den Garten, um die Wäsche von der Leine zu nehmen. Die hereinbrechende Nacht verlieh ihr einen frischen Duft. Die Wäscheleine hing in der Nähe des Efeus, auf dem ich gerne schlummerte. Ich beschloss, mich ihr zu nähern.
Jacqueline nahm die Wäscheklammern ab und verharrte plötzlich reglos mit den Armen voller Bettwäsche. Sie bewegte sich nicht und stand halb versteckt hinter den Badehandtüchern, die wie ein Theatervorhang oder eine Gardine im Zug auf der Leine hingen. Von hier aus konnte sie das hübsche Haus inmitten der grünen Kiefern ebenso wie das kleine Gartenhäuschen, Nanes Atelier und die matten Umrisse der aufgestapelten Stühle sehen. Linker Hand war das kleine, dunkle Fenster des Arbeitszimmers. In dem orangeroten Licht des großen, geöffneten Küchenfensters sah sie, dass Nane Matthis wie eine liebevolle Großmutter auf die Wange küsste und ihn ins Bett schickte. Sie sah aber nicht, dass Nane eine Zeitungsseite aus der Schürzentasche zog, sie in zwei Stücke riss und ein Stück wieder einsteckte. Das andere Stück riss sie in kleine Fetzen und warf sie in den Mülleimer.
Denn Jacqueline schaute über das Haus hinweg. Vor ihrem geistigen Auge sah sie die gesamte Insel, von der sie nun jede Ecke kannte, und auch das Meer ringsherum. Mit der Wäsche auf den Armen stand sie vollkommen ruhig da.
In mir erwachte der Wunsch, ihr nahe zu sein. Ich spürte, dass ich nie wieder die Gelegenheit dazu habenwürde. Zephyr und Apeliotes wehten sanft in meiner Nähe, und gemeinsam setzten wir uns auf die Hand dieser Frau, die in unserem Garten zu Gast war.
Jacqueline spürte auf ihrer Haut eine frische Brise, die eine herrliche Sommernacht ankündigte, und eine sanfte Woge durchströmte sie. Ein ungewohntes Gefühl. Eine unmerkliche Kraft wie ein intensives Bewusstsein ihrer selbst. Und wenn dieser Abend ... Wenn dieser Abend nun der richtige Augenblick war, um auch ihr Geheimnis zu lüften? Sie packte ihre Gedanken und die kleine Brise ein, und ich flog zu meinem Efeu. Jacqueline spürte den leichten Schauer noch immer am ganzen Körper. Es kam ihr so vor, als wäre sie aus einer langen Benommenheit erwacht. Sie atmete tief ein, nahm die restlichen Klammern ab und ging mit den
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