Als die schwarzen Feen kamen
schniefte und zerrte ein Päckchen Taschentücher aus der Ritze zwischen Matratze und Wand. Dumm, dachte sie. Sie verhielt sich dumm und kindisch. Morgen würde sie noch mal mit Theresa reden. Höchstwahrscheinlich tat es ihrer Freundin inzwischen leid, und immerhin war sie verliebt. Verliebte Menschen taten seltsame Dinge, so viel hatte Marie schon verstanden, auch wenn sie selbst noch keine Erfahrungen damit gemacht hatte. Sie zog die Decke über ihren Kopf. Darunter war es warm und dunkel. Die Lider wurden ihr allmählich schwer. Der Anfall steckte ihr noch immer in den Knochen, und das Weinen hatte sie erschöpft. Heute war einfach ein mieser Tag. Bloß gut, dass er jetzt bald vorbei war. Flüchtig streifte sie der Gedanke an die unerledigten Hausaufgaben. Aber die waren jenseits ihrer Deckenhöhle und damit unendlich weit entfernt. Nur kurz die Augen zumachen, dachte sie. Die blöden Englischaufgaben können auch noch eine Viertelstunde warten.
Doch noch ehe sie den Gedanken ganz zu Ende gedacht hatte, war sie auch schon fest eingeschlafen.
Zweites Kapitel: Eine lange Nacht
Die Straße ist schwarz-weiß gepflastert wie ein Schachbrett. Nur viel größer und unendlich lang. Zu beiden Seiten ist sie gesäumt mit hohen, ein wenig verzerrt wirkenden Häusern aus schwarzem Stein. In der Ferne erhebt sich ein schlanker Turm in den rotvioletten Himmel. Eine bleiche Sonne wirft ihr Licht auf die Stadt und glänzt auf den Dächern. Sie brennt, ohne zu wärmen. Niemand ist auf dieser Straße unterwegs. Und dennoch sind dort Augen. Die Blicke kribbeln auf ihrer Haut.
Sie muss den Turm erreichen. Marie ist sich sicher. Der Turm bietet Schutz – wovor? Sie beeilt sich, ihre Schritte hallen von den Häuserwänden zurück, doch die Straße wird immer länger und länger, je schneller sie läuft. Eine Krähe schreit. Ihr Ruf wird von Dutzenden ihrer Brüder und Schwestern beantwortet. Schatten bewegen sich in den Hauseingängen. Nein … es sind Gestalten. Schemenhafte Umrisse mit blassen, traurigen Gesichtern. Sie weinen stumm. Eine der Gestalten sieht direkt zu Marie herüber. Sie öffnet den Mund, als wolle sie etwas sagen. Marie geht dichter heran, um es zu verstehen. Und aus der Nähe erkennt sie: Es ist ein Mensch. Eine Frau mit wirren Haaren und tiefen Ringen unter den Augen. Doch ihre Haut ist ganz bleich. Nein, durchsichtig sogar. Wie bei einem Geist, denkt Marie.
Und dann ist da ein Sirren wie von einem gigantischen Mückenschwarm. Ascheflocken schweben durch die Luft, verfangen sich in Haaren und Kleidern. Eine Wolke verdunkelt die Sonne. Kreischend fliegen die Krähen auf. Sie fliehen vor der Dunkelheit, vor dem Schrecken. Denn die Wolke ist keine Wolke. Es sind schwarze Flügel.
Die Geisterfrau reißt angsterfüllt die Augen auf, neigt sich zu Marie hinüber, nähert ihren Mund ihrem Ohr und stößt ein gellendes Kreischen aus, das Marie von innen heraus zerreißt. Sie schreit und schreit und schreit …
Marie riss die Augen auf.
Ihr Herz schlug rasend schnell. Ihre Decke war vom Bett gerutscht und lag in einem wirren Knäuel auf dem Boden. Die Lampe auf dem Nachttisch brannte noch. Der Wecker daneben zeigte kurz vor drei Uhr am Morgen.
Nur langsam verebbte das Zittern, das Maries Körper schüttelte. Mühsam richtete sie sich auf und stöhnte, als ihre verkrampften Muskeln protestierten. Ihr Rock und die Bluse waren völlig durchgeschwitzt, ihre Augen verklebt von der Wimperntusche, die sie am Abend nicht mehr abgewaschen hatte. Ächzend schälte sie sich aus ihren Kleidern und schlüpfte in ihr Nachthemd. An Schlaf war jedoch nicht mehr zu denken. Die unheimlichen Bilder, denen sie gerade erst entkommen war, hatten sie noch viel zu fest im Griff.
Marie fröstelte und wickelte sich wieder in ihre Decke. Was war das bloß für ein irrsinniger Traum gewesen? Alles hatte sich so echt angefühlt! Sie konnte den leicht beißenden Geruch der Asche immer noch riechen. Und diese Wolke… Unzählige geflügelte Wesen mit glühenden Augen und spitzen Zähnen. Wie kam sie bloß auf so was? Das war nicht nur unheimlich, das war grotesk.
Marie schaltete die Nachttischlampe aus und starrte mit brennenden Augen auf die Digitalanzeige des Weckers. Jede Minute schien eine Ewigkeit zu dauern. Ihre Lider fühlten sich geschwollen an und ihr Mund war wie ausgetrocknet. Aber sie konnte sich auch nicht dazu durchringen, in die Küche zu gehen und sich ein Glas Wasser zu holen.
Draußen vor dem Fenster hatte es mittlerweile
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