Als die schwarzen Feen kamen
aufgehört zu schneien. Die dicke weiße Schicht auf der Fensterbank sah im Licht der Straßenlaternen kränklich orange aus.
Marie streckte den Arm aus und angelte nach ihrer Tasche, die sie wie immer neben das Bett geworfen hatte. Dann schaltete sie die Nachttischlampe wieder ein. Sie musste sich dringend ablenken, und der neue Krimi ihres Lieblingsautors würde sicher helfen– das hoffte sie zumindest. Aber sie konnte sich nicht konzentrieren. Kein einziger Satz schien auch nur ansatzweise einen Sinn zu ergeben, ganz abgesehen davon, dass Marie schon nach zwei Zeilen vergaß, was sie gerade gelesen hatte. Schließlich gab sie es auf. Sie schob das Buch vom Bett, legte sich auf den Rücken und starrte an die Decke.
Die Augen fielen ihr zu.
Und wieder sah sie die endlose schwarz-weiße Straße vor sich, hörte das Sirren der geflügelten Wesen und sah das geisterhafte Frauengesicht, das immer näher kam…
Mit einem erstickten Keuchen fuhr Marie in die Höhe.
Der Wecker schrillte unbarmherzig, ganz dicht an ihrem Ohr. Hastig schlug Marie auf den Knopf.
Schwer atmend blieb sie im Bett sitzen. Sie fühlte sich wie erschlagen. Sie musste mehrere Stunden geschlafen haben, obwohl sie hätte schwören können, nur für wenige Sekunden die Augen geschlossen zu haben. Im Bad hörte sie Wasser rauschen. Ihre Mutter stand unter der Dusche.
Mit einem Stöhnen rieb Marie sich über die Augen. Sie konnte sich nicht daran erinnern, je so froh über das Weckerklingeln gewesen zu sein. Diese grauenhafte Nacht war endlich vorbei– und alles, was von dem Albtraum geblieben war, war ein eigenartiges Gefühl der Vertrautheit mit dieser Traumwelt. Nachdenklich zupfte Marie an ihrer Decke und versuchte, diese merkwürdige Empfindung zu fassen. Die schwarze Stadt, die kleinen geflügelten Wesen, sogar die Geister… sie war sich sicher, sie von irgendwoher zu kennen.
Nur woher, das konnte sie beim besten Willen nicht sagen.
Das Frühstück verlief an diesem Morgen schweigsam. Karin erwähnte ihren Streit vom Vorabend mit keinem Wort, und sie fragte nicht noch einmal, was los war. Marie war froh darüber. Im Bad, als die Erinnerung an den Albtraum allmählich in den Hintergrund rückte, war ihr das ganze Schreckliche wieder eingefallen. Nun lag es wie ein scharfkantiger Klumpen in ihrem Magen und nahm ihr den Appetit. Am liebsten hätte sie gar nicht darüber geredet. Aber sie wusste, sie musste mit Dr. Roth sprechen– und spätestens, wenn die Rechnung kam, würde ihre Mutter sowieso erfahren, dass Marie bei ihrem Therapeuten gewesen war.
Endlich, als schon kaum noch Zeit blieb, legte Marie ihren Löffel zur Seite und nahm sich ein Herz.
» Mama… kannst du für mich bei Dr. Roth anrufen und fragen, ob ich heute Nachmittag kommen darf?« Sie hörte ihre eigene Stimme kaum. Unverwandt starrte sie auf das grüne Muster der Tischdecke, um ihre Mutter nicht ansehen zu müssen. Sie konnte die Sorge in ihrem Blick nicht ertragen.
Sekundenlang blieb ihre Mutter stumm. Dann legte sie die Zeitung zur Seite. » Was war gestern los, Marie?«
Ihre Stimme klang nicht weniger sanft als am Abend zuvor– aber wesentlich bestimmter. Jetzt, wo sie wusste, dass es um Maries Anfälle ging, würde sie sich nicht mit einer Ausrede begnügen. Sie würde auf einer Antwort bestehen. Die ängstliche Fürsorge in ihrer Stimme machte Marie fast wahnsinnig. Sie presste die Lippen zusammen.
» Nichts weiter. Ich hatte nur… ein ganz leichtes Flattern, aber…«, das Blut schoss ihr in die Wangen bei dieser Lüge, » …ich hatte dem Doktor versprochen, ihm Bescheid zu sagen«, schloss sie und fand selbst, dass es wenig überzeugend klang.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis ihre Mutter sich wieder regte. Karin atmete schwer aus und ein, offensichtlich nur mühsam beherrscht. Marie wagte kaum, den Kopf zu heben, um ihrem Blick zu begegnen.
Und als sie es schließlich doch tat, erschrak sie.
Über Karins Wange rollte eine Träne.
» Mama!« Hastig stand Marie auf und lief um den Tisch herum. Das schlechte Gewissen pochte heiß in ihrer Kehle. Es war Ewigkeiten her, dass sie ihre Mutter zum letzten Mal hatte weinen sehen. So liebevoll sie konnte, legte sie ihr die Hand auf die Schulter. Aber sie kam sich sehr hilflos dabei vor.
Karins Finger schlossen sich mit festem Druck um ihre. Ihr Lächeln wirkte verzerrt. » Warum kannst du denn nur nicht mit mir reden, Marie?«, fragte sie leise.
Marie schwieg betreten. Ja, warum? Sie hatte doch selbst
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