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Als die Welt zum Stillstand kam

Als die Welt zum Stillstand kam

Titel: Als die Welt zum Stillstand kam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: G Neumayer
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herum, bis jemand weiter unten an der Straße winkte und rief: »Hier ist einer, der sich auskennt!«
    Der Mann war bald von einer Menschenmenge umringt, was ihm zuerst sichtlich unangenehm war. Mit der Zeit schien ihm seine Rolle als gefragter Berlin-Experte aber immer besser zu gefallen. Er wiederholte bereitwillig seine Wegbeschreibung für Neuankömmlinge und kritzelte Straßenkarten auf Blocks, die man ihm unter die Nase hielt.
    »Sie kennen sich aber gut aus«, sagte eine elegant gekleidete Frau bewundernd. »Wieso wissen Sie das eigentlich alles?«
    Der Mann schaute betreten zu Boden und antwortete nicht. Als bei den anderen nach und nach der Groschen fiel, wurde es still.
    Klar, der Mann musste ein Outlaw sein. Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet die, die man wegen eines Verbrechens vom Tornetz ausgeschlossen hatte, jetzt klar im Vorteil waren.
    »Tempora mutantur«, sagte eine junge Frau.
    Und ein Mann ergänzte: »Et nos mutamur in illis.«
    Die junge Frau nickte. »Sie sagen es.«
    Einige fingen an zu lachen. Die anderen fielen ein und mit der peinlichen Stille war es vorbei.
    »Was heißt das denn überhaupt?«, fragte jemand.
    »Die Zeiten ändern sich«, übersetzte die junge Frau, »und wir ändern uns mit ihnen.«
    »Ja, wenn wir überleben wollen, müssen wir uns alle ändern«, fügte ein alter Mann hinzu. »So schnell wie möglich.«
    Alex klemmte sich den Zettel mit dem Umgebungsplan, den der Outlaw ihm aufgemalt hatte, an den Lenker und fuhr weiter. Er hielt sich an die großen Straßen, auch wenn er dafür den einen oder anderen Umweg in Kauf nehmen musste. Aber nur die großen Straßen waren in den letzten zwölf Jahren wenigstens teilweise gewartet worden – die kleineren Straßen waren voller Baumwurzeln, Blumen und Spielplätze, sodass man mit dem Bike kaum durchkam.
    Und überall das gleiche Bild, wie aus einem alten Fotoalbum aus den Zeiten der großen Kriege: Menschen, die auf der Suche nach Essen, Wasser oder Lademöglichkeiten für ihre Akkus durch die Straßen liefen; Menschen, die an offenen Feuern Essen zubereiteten und dafür aus Kommoden, Schränken und Stühlen Kleinholz machten; überall Schüsseln, Eimer und Tonnen, in denen sich kostbares Regenwasser sammelte; brennende Müllhaufen und brennende Häuser; Aushänge, die offizielle Informationen und Anweisungen enthielten. Und vor allem: Menschen zu Fuß oder mit Bikes, mit so viel Gepäck, wie sie tragen konnten. Sie erinnerten Alex an die Flüchtlinge in einem Holo-Vid über den Zweiten Weltkrieg, das sie in der Schule gesehen hatten. Jetzt sind wir alle Flüchtlinge , dachte er. Die gesamte Menschheit.
    Alex brauchte für die wenigen Kilometer bis zur Avus den halben Tag. Nicht nur, weil die Straßen seit Jahren nicht mehr auf Fortbewegung ausgelegt waren, sondern auch, weil es auf der Straße immer voller wurde, je näher er der Avus kam. Als er schließlich die ehemalige Autobahn erreicht hatte, machte er erst einmal eine Pause. Das Brot mit Käse konnte er noch ungestört essen, aber den Apfel, den er sich als Nachtisch gönnte, riss ihm ein kleiner Junge, vielleicht sechs Jahre alt, aus der Hand. Er rannte wie ein geölter Blitz weg, doch Alex hatte sowieso nicht vor, ihn zu verfolgen. Er wäre sich teraschlecht vorgekommen, einem hungrigen Kind etwas zu essen wegzunehmen, auch wenn es geklaut war.
    Die Avus lag wie eine gigantische schwarze Schlange vor ihm, mit Schuppen aus Geröll, Unkraut, Sträuchern, ein paar alten Autos, aber auch Fabrikhallen und vielen Häusern, die hier nach 2024 gebaut worden waren. Alex stellte sich vor, wie die Schlange sich erhob und all die unzähligen Menschen abschüttelte, die ihr lästig waren. Aber nicht ihn. Er würde es bis Dublin schaffen, egal, wie schwer es werden würde.
    Kurze Zeit später schloss er sich einer Familie mit drei Kindern an, die ebenfalls mit Bikes unterwegs waren. Sie unterhielten sich eine Weile, und Alex erfuhr, dass die Angermanns in die Nähe von Leipzig wollten, zu den Großeltern von Frau Angermann, die sich nicht mehr allein versorgen konnten. Und man wusste ja nicht, ob zum Zeitpunkt des Torausfalls jemand von ihren Mitbewohnern im Co-House gewesen war.
    »Wissen Sie etwas darüber, warum die Tore nicht mehr funktionieren?«, fragte Herr Angermann. »Von den offiziellen Stellen erfährt man ja nichts.«
    Alex zuckte die Schultern. »Ich hab nur Gerüchte gehört. Dass es Terroristen waren. Oder ein technischer Fehler.«
    »Terroristen, das ist auch

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