Als die Welt zum Stillstand kam
Estragon, Melisse, Thymian, Beinwell …
»Was grinst du denn so?«, fragte sie misstrauisch.
»Nuray, vielleicht seid ihr mich früher los, als ihr denkt. Ihr habt da ja eine ganze Apotheke im Garten! Wenn du ein paar Beinwellwurzeln und etwas Butter oder Öl hast, können wir eine Salbe herstellen. Mit der heilt mein Knöchel in null Komma nichts, versprochen!«
Okay, das war übertrieben, aber ein paar Tage brachte die Behandlung vielleicht schon.
»Kriegst du«, sagte Nuray. Dann kniff sie die Augen zusammen. »Apotheke, sagst du? Kennst du dich mit Heilkräutern aus?«
»Ist der Papst katholisch?«, sagte Alex, bevor ihm aufging, dass die Muslima solche Witze vermutlich nicht mochte. »Ich war in unserem Co-House für den Garten zuständig«, fügte er schnell hinzu. »Und von einem koreanischen Gärtner hab ich eine Menge über die Wirkungen von Pflanzen gelernt.«
»Und was hilft gegen …«, Nuray beugte sich vor und riss den Mund auf, »… Tschahnfleischentschündung?«
»Thymian«, sagte Alex. »Ein Tee aus Thymianblättern. Tut’s sehr weh?«
Nuray blickte ihn finster an. »Was denkst du denn?«
»Dann kannst du auch ein Stück Beinwellwurzel kauen«, sagte Alex. »Das hilft gegen die Schmerzen.«
Er konnte sehen, dass Nuray misstrauisch war. Aber eine halbe Stunde später kam sie, vergnügt kauend, mit einem Schälchen zurück.
»Deine Salbe«, sagte sie. »Die Zahnschmerzen sind fast weg. Und ich hätte da einen Vorschlag.«
Irland, Mobilen-Kommune
»Dawn, komm runter und trink was!«, rief Karen zu Celie hinauf.
In den letzten Tagen hatte sich das Leben in der Kommune rasant verändert. Celie war wie fast alle anderen auch zu einem Maintenance-Job verdonnert worden und reparierte Solarzellen auf dem Dach des Krankenhauses. Seitdem traf sie die alte Frau mit den Oma-Klamotten und – wie Celie inzwischen wusste – Arzttiteln in drei Fachrichtungen täglich und sie verstanden sich gut.
Zu gut, dachte Celie, als sie vom Dach kletterte und die kalte Apfellimonade von Karen entgegennahm. Als sie angekommen war, hatte sie instinktiv jeden engeren Kontakt vermieden. Wenn sie hier eine neue Heimat finden wollte, dann musste sie sich schützen, das war ihr von Anfang an klar gewesen. Schützen vor neugierigen Fragen. Vor rachsüchtigen Fanatikern, die die Tochter von Jenna Kranen hassen würden. Und auch vor freundlichen Menschen, die mit ihrem Interesse an ihr schlimmeren Schaden anrichten konnten als ihre Feinde.
Man konnte nicht sagen, dass Celies Plan bisher besonders erfolgreich gewesen war. Sie brauchte inzwischen schon alle Finger einer Hand, um die Menschen aufzuzählen, denen sie seit ihrer Ankunft vor zwei Monaten gefährlich nahegekommen war.
Da war die Stadträtin Karen, mit der sie inzwischen jeden Tag ihre Mittagspause beim Krankenhaus verbrachte.
Da war Olle, der schwedische Computerspezialist, mit dem sie gleich mehrere Geheimnisse teilte – und der vielleicht sogar mit angehört hatte, wie sie mit Pierre über ihre falsche Identität als Dawn gesprochen hatte.
Und da war Jason, der attraktive Bürgermeister, der mit ihr flirtete, wann immer sie sich über den Weg liefen. Und der für sie gelogen hatte, um sie Brigid gegenüber in Schutz zu nehmen.
Brigid. Die Celie aus irgendeinem Grund hasste, den nur sie selbst kannte. Der Celie aber nicht aus dem Weg gehen konnte. Wegen Eliza.
Eliza … Das kleine Mädchen war einfach so in Celies Herz hineingetanzt, gleich am zweiten Tag nach ihrer Ankunft. Celies Trauer über den Tod ihrer Mutter war zu groß gewesen, als dass sie es in der Enge der Kommune ausgehalten hätte. Sie war vor die Tore der Stadt geflohen und im strömenden Regen durch die Felder gelaufen. Und mit einem Mal tanzte Eliza ihr entgegen. Sie drehte sich mit geschlossenen Augen wie ein wilder Gartenzwerg in ihrer grasgrünen Regenjacke und sie sang. Keinen der aktuellen Tasman-Punk -Songs und auch kein Kinderlied, sondern etwas aus einem uralten Film: »Singing in the rain.« Celie blieb wie verzaubert stehen und so tanzte Eliza in sie hinein. Sie riss erschrocken die Augen auf. So traurig Celie war, das brachte sie zum Lächeln. Ohne zu überlegen, sang sie einfach da weiter, wo Eliza aufgehört hatte: »I’m laughing at clouds, so dark up above.« Daraufhin nahm Eliza ihre Hand und gemeinsam sangen sie und winkten den Wolken zu, während sie durch die Pfützen platschten. Und als sie wieder zu der Stelle kamen, an der es hieß: »What a glorious
Weitere Kostenlose Bücher