Als die Welt zum Stillstand kam
Raststätte herrschte kein Mangel an Akkus, weil viele sie gegen Unterkunft und Verpflegung eintauschten, und so ließen Agathe und Nuray das Radio den ganzen Tag lang laufen. Dadurch – und auch durch die ständig wechselnden Gäste – war dieser Ort inzwischen nicht nur zu einem beliebten Rastplatz, sondern auch zu einem Umschlagplatz für Informationen geworden.
Alex konnte sowieso nur rumsitzen und Radio hören. Von dem einzigen Sender, der noch in Betrieb war, erfuhr er, dass die Regierung die Zivile Notfallreserve und die Bundesreserve Getreide freigegeben hatte, ebenso wie die Strategische Ölreserve. Damit wäre eine Versorgung der gesamten Bevölkerung für eine Weile möglich gewesen – wenn man die Reserven denn hätte transportieren können. Aber genau das war das Problem, egal, worum es ging: Nach zwölf Jahren Tornetz gab es kaum noch Transportfahrzeuge. Zwar besaßen die meisten Bauern Traktoren, aber die brauchten sie, um die Ernten einzufahren. Sofern es was zu ernten gab – in der Hitze des Sommers drohten viele Felder zu verdorren. Bewässern konnte man sie nur, wenn man in der Nähe eines Sees lebte oder Zugang zu einem Brunnen hatte.
Jedenfalls hatten nur wenige Menschen etwas von den nationalen Reserven: die, die sich zufällig gerade in der Nähe eines der Lager aufhielten. Und wo die Lager waren, das wurde immer noch geheim gehalten, damit sie nicht geplündert wurden. Das Einzige, was bekannt war: Die Getreidevorräte befanden sich in der Nähe von Mühlen, damit sie weiterverarbeitet werden konnten. Der Sender forderte alle mit Funkgeräten auf, Informationen über die Standorte von Mühlen durchzugeben, damit man eine Liste erstellen konnte.
Abgesehen davon gab es ständig neue Schreckensmeldungen: Alte Menschen starben in ihren Wohnungen, weil ihre intelligenten Häuser nicht mehr melden konnten, dass sie Hilfe brauchten. Überfälle waren an der Tagesordnung. Meistens ging es dabei um Wasser oder um Akkus. Geladene Akkus hatten das Geld als Währung inzwischen abgelöst, weil es kaum Orte gab, an denen man sie aufladen konnte, und es wurde erbittert darum gekämpft. Ein gelähmter junger Mann hatte in Berlin jemanden wegen eines Akkus ermordet, weil er ihn für seinen Roachy brauchte.
Dann folgte wieder mal eine endlose Liste von Suchmeldungen. Die meisten stammten von CB-Funkern, die als Einzige noch ein halbwegs funktionierendes Kommunikationsnetz besaßen.
Aber was Alex am dringendsten wissen wollte – ob Celie in Sicherheit war und ob es Tote auf dem Mond gegeben hatte – darüber brachten sie natürlich nichts.
Nuray schlurfte heran. »Na, Junge, was macht der Fuß?«
Alex war sicher, dass das nicht mitfühlend gemeint war: Nuray wollte ihn nur endlich loswerden. Bei ihr schien sein Charme nicht zu wirken. Er hatte sie unter ihrem schwarzen Kopftuch noch nie lächeln sehen.
»Geht so«, sagte Alex. »Wird aber noch ein paar Tage brauchen.«
Nuray stellte einen Teller vor ihn auf den Tisch. »Dann hoffe ich, du hast noch genug zu tauschen.« Sie rauschte davon.
Alex stocherte in dem Gemüseeintopf. Er bestand im Grunde nur aus Möhren, Kartoffeln und ein paar Kräutern, schmeckte aber garantiert total packy, denn Agathe war eine begnadete Köchin. Doch Alex hatte keinen Hunger. Für das Fahrradflickset, das er den beiden als Bezahlung für Unterkunft und Essen gegeben hatte, würden sie ihn höchstens ein paar Tage versorgen, nicht die zwei Wochen, die sein Fuß mindestens brauchte, um zu heilen. Und was sollte er ihnen dann geben? Die Akkus vielleicht. Aber wenn er sie eintauschte, blieb ihm für den Notfall nichts mehr außer …
Alex tastete in seinem T-Shirt nach Celies Kette. Ja, da war sie. Und da würde sie auch bleiben, bis er Celie gefunden hatte. Egal, ob er deswegen hungern oder auf der Straße schlafen musste.
Er schob mit dem Löffel ein paar Blättchen Petersilie und Giersch hin und her. Und plötzlich hatte er eine Idee, wie er die Heilung seines Knöchels vielleicht beschleunigen konnte.
Er wartete ungeduldig, bis Nuray wieder in seine Nähe kam, dann fragte er sie, woher die Kräuter stammten. Sie verriet ihm, dass zu dem Co-House ein großer Garten, ein Hühnerstall und ein Gewächshaus mit Gemüse und allerlei Kräutern gehörten.
»Bald wird es sowieso jeder wissen«, murrte sie. »Alles Plappermäuler!« Und sie zählte Alex die Kräuter auf, die dort wuchsen: Petersilie, Pfefferminze, Schnittlauch, Koriander, Giersch, Lavendel, Dost,
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