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Als die Welt zum Stillstand kam

Als die Welt zum Stillstand kam

Titel: Als die Welt zum Stillstand kam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: G Neumayer
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geschoben, damit sie das nicht sehen mussten.
    Nicht dass die Kinder nicht gewusst hätten, wie eine Leiche aussah. Sie wussten es genau. Man sah ja inzwischen immer häufiger Tote auf der Autobahn liegen. Manchmal rollte irgendwer sie von der Straße und hinter die Leitplanken. Aber viele trauten sich nicht, die Leichen anzufassen, aus Angst vor Krankheiten. Seitdem immer öfter Ratten gesichtet wurden, glaubten nicht nur die Ängstlichen daran, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis die Pest wiederkehrte.
    Ja, die Kinder kannten den Tod mittlerweile aus nächster Nähe. Und ihnen schien der Anblick der Leichen weit weniger auszumachen als den Erwachsenen. Kinder waren es gewohnt, sich blitzschnell an jede Situation anzupassen, um zu überleben. Und schon bald war das Neue völlig normal für sie. Es war … unheimlich. Manchmal, wenn Alex Kinder um eine Leiche hocken sah, die sie genau untersuchten und der sie jedes brauchbare Stück Kleidung wegnahmen, kamen sie ihm wie Monster vor.
    Aber vielleicht war das die Zukunft, und in Wirklichkeit war Alex das Monster, dem es nicht gelang, sich anzupassen?
    Sogar Bernie, dachte Alex, kommt besser mit dem ganzen Shit zurecht als ich. Aber vielleicht sah das auch nur so aus. Schließlich war Bernie bei der Beerdigung vorgestern ganz schön fertig gewesen. Und wer wusste schon, welche Albträume ihn nachts verfolgten?
    Alex hatte seit kurzem einen neuen Albtraum. Seit die Gruppe mitten in der Nacht von vier Schlägern angegriffen worden war. Sie hatten einen der Klempner, Robbe, erstochen, bevor die anderen überhaupt mitbekamen, was passierte. Als Ruben wie ein Berserker auf die Angreifer losging, schnappten sich drei der Männer Rubens Schwester Maria und hielten ihr ein Messer an die Kehle. Dann verschwanden sie mit ihr in der Nacht. Ruben und die Belgier folgten ihnen, fanden ihre Spur aber erst nach einer Weile wieder. Als es schon zu spät war.
    Sie kamen erst am Morgen zurück. Trotz der Stichwunden in seinem Bein trug Ruben die tote Maria auf den Armen.
    Seitdem träumte Alex jede Nacht von Celie. Celie, die geschlagen wurde, Celie, die vergewaltigt wurde, Celie, die als Sklavin für eine Großstadtgang schuften musste – auf der Autobahn erzählte man sich grauenhafte Geschichten über diese Gangs –, Celie, die mit durchschnittener Kehle unter ihrem Orangenbaum lag … Wenn Alex dann schweißgebadet hochschreckte, versuchte er sich einzureden, dass das alles Bullshit war. Dass Celie in der Kommune lebte, an einem der fortschrittlichsten Orte, die es heute überhaupt gab. Er wollte glauben, dass es ihr gut ging, musste es einfach glauben. Sonst hätte er sich einfach an den Straßenrand gesetzt und auf das Ende der Welt gewartet.
    Sie hatten Maria und Robbe direkt neben der Autobahn beerdigt. Die Kinder hatten den Angriff und den Tod der beiden geradezu unheimlich leicht verdaut. Aber Bernie wirkte seitdem abwesend, bekam kaum noch mit, wenn jemand mit ihm sprach, und wenn er das Funkgerät bediente, zitterten seine Hände.
    Jetzt stand er regungslos im Garten und starrte die Kinder an, die den Birnbaum plünderten.
    »Hey, Mann, was ist los?«, fragte Alex.
    »Tamade! Musst du dich so anschleichen?!«
    »Sorry …« Alex hob die Hände, aber Bernie schnaubte und rannte an ihm vorbei Richtung Autobahn.
    Alex lief hinter Bernie her, bis der sich kurz vor der Autobahn ins Gras fallen ließ. Er bedeckte sein Gesicht mit den Händen, aber Alex konnte sein Schluchzen hören.
    »Was ist denn los, Mann? Ist es wegen Maria? Oder wegen Robbe? Ich wusste gar nicht, dass du ihn so gut gekannt hast.«
    »Hab ich nicht«, stieß Bernie hervor.
    »Was hast du dann?«
    Bernie schniefte, dann sah er Alex aus roten Augen an. »Erst Jenna, dann Camille und jetzt … Ich hab das die ganze Zeit … Ich ertrag’s einfach nicht mehr. Meine Eltern … Wer weiß, vielleicht sind alle, die ich kenne, schon tot.«
    »Nein, sind sie nicht.« Alex sah Bernie finster an. »Denk nicht mal dran.«
    Aber, shit, jetzt dachte Alex selbst dran. Ob er seine eigenen Eltern wohl je wiedersehen würde. Ob seine Mutter auf dem Mond gewesen war, als die Tore ausfielen. Ob Celie … Celie. Alex hatte sich die ganze Zeit an den einen Gedanken geklammert, an das eine Ziel, das ihm am wichtigsten war: Celie zu finden. Irgendwie hatte er sich erfolgreich eingeredet, dass dann alles gut werden würde. Wie tonto das war, wie bescheuert und naiv, das wurde ihm jetzt klar, als Bernie wie ein Häufchen

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