Als gaebe es kein Gestern
musst? Wenn das das einzige Kriterium für deinen Wert ist? Wenn es nicht darauf ankommt, wie schlau du bist oder wie hübsch oder wie viel Wissen du angehäuft hast oder wie viel Geld? Was, wenn es vollkommen egal ist, was andere Menschen von dir denken? Wenn es nicht auf deine Leistungen ankommt? Nicht einmal darauf, wie ‚gut‘ du warst oder wie moralisch du gelebt hast?“
Livia war wie elektrisiert, merkte aber gleichzeitig, wie sich Widerstand in ihr regte. Während sie den Blick des Pastors auf der einen Seite beinahe verzweifelt festhielt, manifestierten sich ihre Gedanken auf der anderen in eine klare Richtung. Niemand liebt mich auf diese Weise … niemand … niemand … niemand.
Schließlich endete dieser einzigartige Moment. Der Pastor wandte sich seiner Bibel zu, schlug sie auf und sagte: „Es gibt einen wunderschönen Bibeltext, um den es heute gehen soll:
1. Korinther 13, ab Vers 4. Ich werde den Text ein bisschen abwandeln, indem ich statt ‚die Liebe ist‘ einfach mal ‚Gott ist‘ lese.“ Und dann legte er los. „Gott ist langmütig und freundlich, Gott eifert nicht, er treibt nicht Mutwillen, er bläht sich nicht auf, er verhält sich nicht ungehörig, er sucht nicht das Seine, er lässt sich nicht erbittern, er rechnet das Böse nicht zu, er freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, er freut sich aber an der Wahrheit, er erträgt alles, er glaubt alles, er hofft alles, er duldet alles …“
Vielleicht duldet er alles, weil ihm alles egal ist , überlegte Livia bitter. Weil er mich genauso wenig kennt wie ich mich selbst … Wo war er denn in den letzten Monaten? Wo war er, als ich die Böschung hinuntergerast bin? Als ich im Krankenhaus lag?
An dieser Stelle tauchte wie aus dem Nichts eine Gestalt vor Livias geistigem Auge auf. Es war Karen. Eine Gestalt mit einem unendlich liebevollen Blick … mit Händen voller Fürsorge …
Ich hätte viel mehr gebraucht , dachte Livia ärgerlich. Einen Ehemann, der mich liebt. Eine Identität! Stattdessen hab ich nicht mal ein Hochzeitsfoto!
Ihr Blick wanderte nach links zu Frau Schneider. Ob sie bei ihr die Antworten finden würde, die sie so dringend brauchte?
Den Rest der Bibelstunde verbrachte Livia mit der Suche nach einer geeigneten Strategie. Wie konnte sie Frau Schneider erklären, dass sie keine Hochzeitsfotos besaß, ohne ihr Misstrauen zu erregen? Welche Ausrede konnte sie glaubhaft genug vorbringen?
Als sich die Versammlung zum Segensgebet erhob, hatte Livia etwas parat.
„Meine Bitte ist Ihnen sicher seltsam vorgekommen“, begann sie, kaum dass sich die ersten Besucher erhoben. „Wissen Sie … als ich den Unfall hatte, war ich gerade auf dem Weg zu einer Freundin, um die Fotos mit ihr anzusehen. Deshalb wurden sie allesamt zerstört.“
„Oh, das ist ja furchtbar“, erwiderte Frau Schneider entsetzt. „Richtig, richtig furchtbar!“
Livia nickte gequält. Sie hatte ein ziemlich schlechtes Gewissen. Ob es angebracht war, ausgerechnet in einer Kirchengemeinde mit dem Lügen zu beginnen? „Meinen Sie … na ja … Sie könnten mir die Fotos noch heute Abend zeigen?“
Frau Schneider sah auf ihre Uhr. „Ich … ich weiß nicht. Es ist schon nach halb zehn …“
„Bitte“, flehte Livia. „Ich bleib auch nicht lange.“
Die alte Dame zuckte die Achseln. „Nun … ich muss ja morgen nicht raus …“
Livia fiel ihr spontan um den Hals. „Danke! Das werd ich Ihnen niemals vergessen!“
Wie sich herausstellte, wohnte Frau Schneider nicht sonderlich weit entfernt. Nach einem Fußmarsch von nur wenigen Minuten standen beide vor der Eingangstür eines Mehrfamilienhauses. Frau Schneider reichte Livia die Schlüssel. „Ich seh nicht mehr besonders gut“, entschuldigte sie sich.
Livia nickte und schloss die Tür auf. Dann hakte sie sich bei der alten Dame ein und half ihr, die Treppen in den dritten Stock zu bewältigen.
Als Livia die Wohnungstür öffnete, schlug ihr eine enorme Wärme wie ein Saharawind entgegen. Erst jetzt fiel ihr auch auf, dass Frau Schneider trotz der Frühlingszeit einen dicken Wollmantel trug. „Sie sind wohl eine Frostbeule“, bemerkte Livia lächelnd.
„Ich bin nicht auf Besuch eingestellt“, entschuldigte sich die alte Dame und schaltete das Licht ein. „Wenn Ihnen zu warm ist, können wir das Fenster öffnen.“
„Nicht nötig“, erwiderte Livia und sah sich um. Der Flur war klein und recht altmodisch eingerichtet. Jedenfalls bestand die Garderobe aus verschnörkeltem
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