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Als gaebe es kein Gestern

Als gaebe es kein Gestern

Titel: Als gaebe es kein Gestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kirsten Winkelmann
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ursprünglich geschaffen hatte. Das einzige Heilmittel gegen dieses Problem ist Jesus Christus. Wenn er ein Teil von dir ist, bist du in Gottes Augen in Ordnung.“
    „Und wenn ich gar keine Lust habe, mich mit Gottes Augen zu sehen?“, fragte Livia provokativ.
    Frau Schneider nahm einen Schluck Wasser. „Also, wenn du ’ne bessere Idee hast … nur raus damit!“
    „Menschen“, sagte Livia. „Ich bin ein Mensch und möchte mich lieber von anderen Menschen beurteilen lassen als von Gott.“
    „Hm …“, machte Frau Schneider. „Frei nach Robert Schuller oder wie?“
    „Robert wer?“
    „Robert Schuller“, wiederholte Frau Schneider. „Er hat mal gesagt: ‚Ich bin nicht, der ich glaube zu sein. Ich bin, der ich glaube, dass du glaubst, der ich bin.‘“
    „Wie bitte???“
    „Tja“, kicherte Frau Schneider. „Darüber muss man erst mal nachdenken, nicht wahr? Aber dein Wunsch, dich von anderen Menschen beurteilen zu lassen, macht die Sache nun mal kompliziert. Wie wär’s, wenn wir zuallerst klären, welche Menschen urteilen sollen? Menschen welcher Kultur? Welcher Zeit?“
    „Keine Ahnung … Ist das wichtig?“
    „Aber natürlich!“, behauptete Frau Schneider. „Es gab Zeiten, da war es komplett in Ordnung, andere Menschen wie Hunde zu halten. Oder jemanden hinzurichten, der vor lauter Hunger einen Apfel vom Baum eines anderen gepflückt hat. Ach, viel mehr noch … in der ganzen Menschheitsgeschichte wurde die Grenze zwischen Gut und Böse willkürlich hin und her geschoben. Die englische Krone hat die grausamsten Piraten in den Adelsstand erhoben, nachdem sie Schiffe verfeindeter Länder angegriffen hatten.“
    „Dann eben zivilisierte Menschen. Menschen in Deutschland. Heute.“
    „Also die Spezies, die Wale schützt, gegen Atomkraft wettert und Babys abtreibt, ja?“
    Livia musste schlucken. „Das mit der Abtreibung ist ein schwieriges Thema …“
    „Mag sein. Aber mit dem Ehebruch ist es definitiv genauso schwierig. Stell dir ein junges türkisches Mädchen vor, das zur Ehe gezwungen und dann andauernd geschlagen wird. Dann trifft sie den Mann ihres Lebens. Willst du sie verurteilen, wenn sie jetzt die Ehe bricht? Oder nimm deine eigene Situation. Du weißt doch gar nicht, was zwischen Arvin und dir vorgefallen ist. Und selbst wenn du es wüsstest … oder wenn Arvin sich tatsächlich falsch verhalten hätte … vielleicht hat er eine gute Entschuldigung dafür …“ Frau Schneider schüttelte den Kopf. „Also wenn du mich fragst, hast du nicht den Hauch einer Chance, die Schuldfrage vernünftig zu beantworten.“
    Als Frau Schneider geendet hatte, herrschte eine ganze Zeit lang Schweigen. In Livias Kopf war vorher schon ein Knoten gewesen. Und das war durch Frau Schneiders Vortrag nicht gerade besser geworden.
    Schließlich erhob Livia sich. „Ich muss jetzt nach Hause“, sagte sie müde. „Schlafen.“
    „Kommt nicht infrage“, widersprach Brunhilde Schneider. „Zuerst suchen wir das Foto, dessentwegen du gekommen bist.“ Mit diesen Worten nahm sie Livia den Stapel Fotos aus der Hand, drückte sie sanft zurück aufs Sofa und machte sich nun ihrerseits auf die Suche. Eine ganze Weile arbeitete sie sich schweigend voran, dann hielt sie eines der Fotos triumphierend in die Höhe. „Hier ist es! Ich wusste doch, dass ich welche besitze.“
    Livia streckte ihre Hand nach dem Foto aus und nahm es zitternd entgegen. Es war … schön und schrecklich zugleich! Arvin … Frau Schneider hatte nicht übertrieben … Auf dem Foto strahlten seine Augen, als hätte er einen großen Schatz gefunden. Und gut sah er aus … so groß und stattlich … so elegant in seinem dunklen Anzug … Aber die Frau – sie selbst? – schien keinen Bezug zu ihr, Livia, aufzuweisen. Kein Wiedererkennungswert. Keine Erinnerung. Eine Fremde. Nichts weiter. „Sie hat kaum Ähnlichkeit mit mir!“, flüsterte Livia mit zittriger Stimme. „Sehen Sie das?!“
    Frau Schneider machte ein erstauntes Gesicht, schälte sich aus ihrem Sessel und ließ sich neben Livia auf dem Sofa nieder. Dann rückte sie ihre Brille zurecht und ließ ihren Blick zwischen dem Bild und Livia hin- und herschweifen. „Nein, das stimmt nicht“, sagte sie schließlich. „Ich sehe die gleiche Statur, die gleiche Haarfarbe, die gleiche Nase …“
    „Aber die Augen“, flüsterte Livia. „Das sind nicht meine Augen.“
    Frau Schneider zog an Livias Arm und hielt sich das Bild auf diese Weise direkt vor die Nase. „Findest

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