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Als gaebe es kein Gestern

Als gaebe es kein Gestern

Titel: Als gaebe es kein Gestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kirsten Winkelmann
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die weiche Puppe, dass es bald keinen Schritt mehr ohne sie unternahm. Ihre Liebe zu der Puppe überdauerte nicht nur die Windeljahre, sondern auch den Kindergarten. Schließlich kam das Mädchen zur Schule. Im Verlauf der Schuljahre wurde es immer größer und hübscher, die Puppe hingegen wetzte sich immer mehr ab. Aus der Not heraus steckte die Mutter sie ein paarmal in die Waschmaschine, was auch nicht gerade zu ihrer Stabilität beitrug. Als das Mädchen in die sechste Klasse kam, war die Puppe bereits an mehreren Stellen geflickt, hatte neue Augen bekommen und nur noch sehr wenige Haare. Trotzdem verbrachte sie auch jetzt noch jede Nacht im Bett des Mädchens. Erst als das Mädchen nach dem Abitur studieren ging, übergab es ihre Puppe der Mutter.
    „Was denkt ihr, hat die Mutter mit der Puppe gemacht?“, fragte der Pastor in die Runde.
    Sehr zu ihrem eigenen Erstaunen hing Livia zu diesem Zeitpunkt bereits voller Faszination an seinen Lippen und ließ sich kein Wort entgehen.
    „Sie hat sie weggeworfen“, sagte ein Mann aus der ersten Reihe.
    „So eine Antwort kann nur von einem Mann kommen“, seufzte eine Frau, die nur zwei Reihen vor Livia saß. „Also, wenn ich diese Mutter wäre – und ich hatte Kinder, wie ihr wisst –, dann hätte ich die Puppe ein weiteres Mal gewaschen, vernünftig repariert und sorgfältig weggelegt.“
    „Eins-a-Antwort“, lächelte der Pastor, der trotz eines Vollbartes noch ziemlich jung wirkte. „Denn genau das hat die Mutter getan. Die Frage ist nur: Warum? Welchen Grund hat dieses Verhalten?“
    „Vielleicht war die Puppe wertvoll“, mutmaßte der Mann, der sich schon eben zu Wort gemeldet hatte.
    „Also, auf dem Flohmarkt hätte man nichts mehr für sie bekommen“, stellte der Pastor klar. „Gar nichts.“
    „Sie war trotzdem wertvoll“, behauptete ein anderer Mann. „Einfach weil sie für das Mädchen wertvoll war.“
    „Genau richtig“, lächelte der Pastor. „Sie war wertvoll, weil jemand beschlossen hatte, dass sie wertvoll war. Und genau da wird die Sache interessant. Wir alle kennen Menschen, die Werte suchen . Es gibt sie im Grunde an allen Ecken und Enden. Goldgräber sind solche Menschen … oder Briefmarkensammler … Ähnlich verhält es sich mit Arbeitgebern, die Einstellungstests durchführen, oder …“ – er grinste plötzlich – „na ja … mit Dieter Bohlen, wenn er mithilfe von Castings den neuesten Superstar sucht.“
    Ein paar Leute lachten amüsiert auf. Andere machten ein verwundertes Gesicht. Wahrscheinlich hatten sie noch nie DSDS gesehen …
    „Was es viel seltener gibt“, fuhr der Pastor fort, „sind Menschen, die Werte geben . Eltern sollten solche Menschen sein. Sie geben den Kindern ihren Wert, indem sie an sie glauben und sie fördern, noch bevor sie irgendetwas auf die Beine gestellt oder überhaupt einen Schritt vor den anderen gesetzt haben. Und wir alle wissen, welche Macht sie haben. Wie auch immer die Einstellung der Eltern zu ihnen war, so erleben sich auch die Kinder. Wurden sie geliebt, so halten sie sich für wertvoll und werden seltsamerweise schon in der Schule auch von den anderen Schülern respektiert. Wurden sie aber nicht geliebt, sondern nur kritisiert, dann ringen sie ihr Leben lang um die Anerkennung von außen.“
    Livia saß wie hypnotisiert auf ihrem Stuhl und starrte auf diesen jungen Pastor. Sie fühlte sich, als wäre sie nur wenige Zentimeter von ihrer eigenen Antwort entfernt. Was war sie wert? Livia? Livia Scholl?
    „Und jetzt verrate ich euch eine Neuigkeit: Die Liebe Gottes ist von ihrer Natur her immer eine wert gebende Liebe, nie eine wert suchende . Gott hat es nämlich nicht nötig, nach Wer-
ten zu suchen. Er ist der Inbegriff aller Werte, allen Wertes. Er ist es, der sowieso alles gibt. Was könnte er jemals suchen, das er nicht schon selbst besitzt? Was?“
    Livia runzelte die Stirn. Sie war nicht hier, um etwas von Gott zu hören. Sie wollte etwas über sich selbst erfahren!
    „Oder anders ausgedrückt …“ Der Pastor sah in die Runde, streckte seine Hand aus und deutete mit dem Zeigefinger zuerst auf den Mann in der ersten Reihe. „Was ist, wenn Gott dich …“ – sein Finger wanderte weiter – „… dich … dich … dich …“
    Als sein Finger an Livia hängen blieb und er ihr direkt in die Augen sah, hatte sie schon eine ganze Zeit lang nicht mehr geatmet …
    „… dich … so sehr liebt wie das Mädchen diese Lumpenpuppe? Und wenn das alles ist, was du wissen

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