Als gaebe es kein Gestern
ich doch nicht“, antwortete Enno und wandte sich mit einer ruckartigen Bewegung von Livia ab. „Deine Fragen klingen, als würdest du ihm glauben.“
„Bis eben nicht“, antwortete Livia, während sie Enno mit ihren Blicken verfolgte. „Aber jetzt …“ Und dann fragte sie ihn geradeheraus: „Hab ich Arvin mit dir betrogen?“
„So’n Blödsinn“, lachte Enno und schüttelte heftig mit dem Kopf. „Du hast Arvin nie betrogen. Weder mit mir noch mit irgendjemandem sonst. Und wenn du es jetzt tätest …“ – er warf ihr einen fast auffordernden Blick zu – „… dann wäre es die Folge seines Verhaltens, nicht die Ursache .“
„Ich weiß nicht, Enno … Ich … erinnere mich nicht an früher. Und ich will mir nichts vorwerfen lassen müssen, verstehst du?“
Enno seufzte tief, streckte den linken Arm aus und wies auf die Tür. „Dann mach halt deine Erfahrungen, Livia. Früher oder später wird Arvin dir schon zeigen, wo dein Platz ist, da mach ich mir gar keine Sorgen.“
Livia nickte, doch wirkte ihr Gesichtsausdruck ziemlich gequält. Sie hätte ein Vermögen gegeben, um schon jetzt zu erfahren, wo ihr Platz war.
Enno schien ihre Gedanken lesen zu können. Jedenfalls sagte er ernst: „Wann immer du kommst, Livia, ich werde hier sein und auf dich warten.“
Livia fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Die Erinnerung an den Kuss hatte nichts wirklich Schönes an sich. Und auch sein übriges Verhalten war alles andere als angenehm gewesen. Ihr Blick fiel noch einmal auf den Aktenordner. „Ich glaub, ich kannte mal eine Angelika“, sagte sie wie zu sich selbst. „Aber das muss früher gewesen sein, ganz früher.“ Ihr Blick wanderte in die Ferne. „Wenn ich es nur greifen könnte …“, murmelte sie. Aber dann schüttelte sie den Kopf und wandte sich zum Gehen.
Kapitel 23
Die Begegnung mit Enno bewirkte so ziemlich das Gegenteil von dem, was Livia bezweckt hatte.
Eigentlich hatte sie ihn aufgesucht, um sich bestätigen zu lassen, dass die ganze Seitensprunggeschichte nur in Arvins Kopf passiert war. Aber dann hatte er sie geküsst … und dadurch alles ganz neu infrage gestellt. War es möglich, dass sie Arvin mit Enno betrogen hatte? Und dass sie gerade dabei war, das Ganze zu wiederholen?
Die Antwort auf diese Frage schien ganz eng mit Livias Frage nach sich selbst, ihrem Charakter, ihrem Leben verknüpft zu sein. Und sie musste beantwortet werden. Sie musste .
Livia dachte lange darüber nach, wie dies möglich wäre, und kam zu dem Schluss, dass sie Menschen aufsuchen musste, die mit Arvin bekannt waren. Vielleicht hatte er ihnen erzählt, was zu Hause passiert war. Und vielleicht, ganz vielleicht, konnte sie ihnen sogar etwas entlocken. Das Problem war nur, dass ihr auf Anhieb niemand einfiel. Außer Enno schien Arvin keine Freunde zu haben und außer Karen keine Verwandte. Aber vielleicht gab es ja in Arvins Kirchengemeinde Menschen, die irgendetwas wussten?
Livia beschloss, nach jedem Strohhalm zu greifen, googelte bei Gunda ein bisschen im Internet herum, suchte sich eine „Bibelstunde“ heraus und ließ sich schon wenige Abende später von Manfred zu Arvins Kirchengemeinde fahren.
Die größte Hürde bestand natürlich in ihren eigenen Erinnerungen. Obwohl sie heute besser mit Menschenansammlungen umgehen konnte als noch vor einigen Wochen, wurden ihre Knie schon weich, als sie aus dem Auto ausstieg.
„Hier, nimm mein Handy“, sagte Manfred zum Abschied. „Dann kannst du anrufen, wenn ich dich abholen soll.“
Livia nahm das Angebot dankend an, warf die Beifahrertür zu und machte sich zügig auf den Weg. Sie hatte keine Jacke an und war einem unerwartet kühlen Wind ausgesetzt. Immerhin regnete es nicht. Obwohl es bereits kurz vor acht war und die Veranstaltung laut Internet um acht beginnen sollte, sichtete sie nur zwei oder drei weitere Leute, die auf das Gebäude zusteuerten.
Livia beruhigte das. Die Massenveranstaltung vom letzten Mal war wirklich nicht das Richtige für sie.
Trotz dieser positiven Aspekte wurde die Erinnerung an ihren letzten Besuch mit jedem Schritt greifbarer. Als sie schließlich das Gebäude betrat, fühlte sie sich fast so eingeengt und bedroht wie damals. Dennoch steuerte sie ohne Umschweife auf den großen Saal zu. Dort angekommen, ließ der Druck ein wenig nach. Es war tatsächlich nur ein Bruchteil der Besucher anwesend, die Livia an jenem Sonntagmorgen angetroffen hatte. Damals waren die meisten Plätze belegt gewesen, heute
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