Als gaebe es kein Gestern
„Und wie?“, flüsterte sie atemlos.
Brunhilde Schneider seufzte tief. „Ein Autounfall.“
Livia sah der alten Dame prüfend in die Augen. Die Antwort war irgendwie so zögerlich gekommen … „Er war hoffentlich nicht dabei?“, fragte sie fast flüsternd.
Dieses Mal kam überhaupt keine Antwort.
„Ich muss das wissen“, flüsterte Livia und klang dabei wie eine Verdurstende bei der Bitte um Wasser.
Frau Schneider zögerte immer noch.
„Bitte“, flehte Livia.
„Sein Vater war sofort tot, aber Marianne –“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Und als sie weitersprach, hatte sie Mühe, ihrer Stimme Stabilität zu verleihen. „Sie war meine Freundin und … sie ist in Arvins Armen gestorben.“
Livia schloss kurz die Augen. Als sie sie wieder öffnete, war es, als wäre Arvin ein anderer Mensch für sie geworden. War dieses Erlebnis der Grund für sein Verhalten? Für seine Abneigung gegen Veränderungen? Für seine seltsame, fast fanatische Liebe zu Dingen wie Vasen, Teddybären und Fotoalben? „Wenn …“, presste sie hervor, „wenn ich das doch nur gewusst hätte!“
„Dann?“, wollte Frau Schneider wissen.
Ja, was dann?
„Ich weiß auch nicht …“ Livia schüttelte den Kopf. „Wer hat sich nach dem Tod seiner Eltern um Arvin gekümmert?“
„Karen. Das war Karen.“
Livia schluckte schwer. Ihr ging ein Licht nach dem anderen auf! Karens Abneigung gegen das Autofahren … und dann die Art, wie sie mit Arvin umging, diese manchmal fast mütterliche Art … Karen war drei Jahre älter als Arvin. Siebzehn . Kein Wunder, dass die beiden so aneinander hingen …
„Hatte ich je eine Chance?“, hörte sich Livia fragen.
Frau Schneider runzelte die Stirn. „Was meinst du?“
„Als Ehefrau … Hat er mich je geliebt?“
„Ob er dich geliebt hat? Aber natürlich hat er das! Er war der verliebteste Esel, den ich je gesehen habe!“ Bei dem Gedanken musste Frau Schneider lachen. „Wenn er nur deinen Namen gesagt hat, fingen seine Augen schon an zu strahlen. Jedem, der es hören wollte, hat er von dir vorgeschwärmt. Jedem.“
Livia rann es gleichzeitig heiß und kalt den Rücken hinab. „Was hat er denn gesagt … Ich meine … was fand er denn so toll an mir?“
„Zuerst natürlich dein Aussehen, deine großen blauen Augen, dein Lächeln, deine Figur. Aber das war nicht das Ausschlaggebende. Ich glaube, du warst einfach so furchtbar anders als er, so lebendig … quirlig … fröhlich … Außerdem noch unbeschwert … spontan … unkonventionell. Damit hast du ihn aus seiner Traurigkeit gerissen.“
Livia ließ diese Worte eine Zeit lang auf sich wirken. Unbeschwert? Fröhlich? In diesen Begriffen erkannte sie sich nicht wieder. „Was ist schiefgegangen?“, fragte sie schließlich. Ihre Stimme zitterte.
Frau Schneider ließ sich zu einem weiteren tiefen Seufzer hinreißen. „Ich denke, es war wie so oft im Leben. Aus spontan wurde sprunghaft … aus quirlig anstrengend … aus unkonventionell …“ Sie zögerte.
„Untreu?“, fragte Livia.
„Das hast du gesagt …“
„Stimmt es oder stimmt es nicht?“, brach es aus Livia hervor.
„Arvin hat so etwas angedeutet …“, räumte Frau Schneider ein. Und dann warf sie einen betont vorsichtigen Blick auf Livia. „Was sagst du denn dazu?“
Livia zuckte die Achseln. „Ich weiß es nicht, Frau Schneider.“ Sie sackte auf dem Sofa in sich zusammen. „Seit eben weiß ich eigentlich überhaupt nichts mehr.“
Frau Schneider streckte die Hand aus und tätschelte Livias Knie. „Die Situation ist ziemlich verfahren, wie?“
Livia nickte traurig. „Arvin hasst mich. Ich weiß nur noch nicht, ob zu Recht oder zu Unrecht.“
„Spielt das denn eine Rolle?“
„Für mich schon! Vielleicht ist es schwer nachzuvollziehen, aber … Ich hatte diesen Unfall und weiß seitdem nichts mehr. Gar nichts. Ich weiß nicht, wer ich bin. Weiß nicht, ob ich so heiße, wie ich heiße. Nicht mal, ob ich ein guter oder ein schlechter Mensch bin.“
„Oh, das kann ich dir beantworten“, lächelte Frau Schneider.
Livia runzelte die Stirn. „Und zwar?“, fragte sie deutlich verhalten.
„Aus Gottes Sicht bist du ein schlechter Mensch, Livia. Und das hängt nicht davon ab, ob du die Ehe gebrochen hast. Jeder Mensch ist schlecht oder sagen wir mal … nicht gut genug. Schon von Geburt aus. Das kannst du im Römerbrief nachlesen. Alle sind schuldig geworden und haben die Herrlichkeit verloren, in der Gott den Menschen
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