Als gaebe es kein Gestern
Eichenholz.
„Das Wohnzimmer ist gleich hier vorne“, sagte Frau Schneider und deutete auf die erste Tür zu Livias Linken. „Fühlen Sie sich wie zu Hause, ich hole nur noch etwas zu trinken. Was möchten Sie haben?“
„Ein Glas Wasser vielleicht?“, schlug Livia vor.
„Kein Problem.“
Während Frau Schneider nach rechts abbog, öffnete Livia die Tür zum Wohnzimmer. Eine Weile tastete sie hinter der Tür nach dem Lichtschalter, dann hatte sie ihn gefunden. Auch dieser Raum war nicht sonderlich groß, aber enorm warm. Neben einer schlichten Schrankwand aus dunklem Holz gab es ein Sofa und einen Sessel mit einem geblümten Stoffbezug und passenden Kissen.
Livia nahm Platz, hielt aber schon mal nach den Fotoalben Ausschau. Leider entdeckte sie nur ein paar nichtssagende Buchrücken, ziemlich viele Porzellanfiguren und etwas, das wie eine Sammlung alter Schallplatten aussah. Am liebsten wäre sie aufgesprungen, um auch die verschlossenen Schränke zu durchwühlen.
Als Frau Schneider schließlich wiederkam, trommelte Livia bereits unruhig mit den Füßen auf dem Teppich herum.
„Ich wundere mich, dass Arvin nicht schon längst auf die Idee gekommen ist, mich um ein paar Abzüge zu bitten“, sagte Frau Schneider und stellte zwei gefüllte Gläser auf die dunklen Fliesen des Couchtisches.
„Ja, das …“, stammelte Livia, „… wundert mich auch.“
Sehr zu Livias Freude ging die alte Dame auf den Schrank zu und öffnete eine der Türen. „Vielleicht hat er nicht daran gedacht, dass ich welche besitze“, überlegte sie.
„Wahrscheinlich …“
Frau Schneider holte eine größere Holzkiste hervor, trug sie zum Tisch und stellte sie dort ab. Dann ließ sie sich auf den einzigen Sessel fallen.
Wieder musste Livia all ihre Kraft aufwenden, um nicht aufzuspringen und über die Kiste herzufallen.
„Ich hab lange keine Bilder mehr eingeklebt“, entschuldigte sich Frau Schneider und öffnete die Kiste.
Livia rückte so weit zu ihr herüber, wie es nur irgend möglich war, und versuchte verzweifelt, einen Blick auf die Bilder zu erhaschen. Unglücklicherweise schien in der Kiste wirklich ein ziemliches Durcheinander zu herrschen. Das oberste Bild zeigte zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen. Frau Schneider nahm eine Brille vom Couchtisch, setzte sie auf und nahm das Bild aus der Kiste. „Das sind Marvin und Stella, meine Enkelkinder.“ Sie lächelte verklärt. „Möchten Sie mal sehen?“
Livia nickte tapfer und hörte sich in der nächsten Viertelstunde geduldig an, was für wundervolle Kinder die beiden doch waren. „Und meine Hochzeitsfotos?“, fragte sie schließlich irgendwann.
„Ach ja, genau.“ Dieses Mal nahm Frau Schneider gleich einen ganzen Packen Bilder aus der Kiste und drückte sie Livia in die Hand. „Am besten, Sie sehen selbst nach.“
Livia nickte gierig und durchsuchte die Bilder, indem sie immer eines nach dem anderen hinter die anderen steckte. Im ersten Stoß war nichts. Frau Schneider reichte ihr den nächsten. „Das sind übrigens Benno und Marianne.“
Livia runzelte die Stirn. Das Ehepaar auf dem Bild hatte sie schon mal irgendwo gesehen …
„Deine Schwiegereltern“, sagte Brunhilde, als sie merkte, dass Livia die beiden nur verständnislos anstarrte.
„Oh“, machte Livia und erinnerte sich, die beiden auf den Fotos in Arvins Album gesehen zu haben. „Wohnen die beiden sehr weit weg?“
Da Frau Schneider nicht antwortete, sah Livia hoch und fing einen ziemlich erstaunten Blick auf. „Stimmt was nicht?“
„Na ja …“, entgegnete Brunhilde und betrachtete Livia immer noch voller Befremdung. „Du solltest eigentlich wissen, dass sie längst heimgegangen sind …“
Livia hob die Augenbrauen. „Heimge…?“ Als ihr dämmerte, was dieses seltsame Wort bedeuten sollte, machte sie: „Oh … heimgegangen … Sind sie das? Das tut mir aber leid …
Ich meine …“ Und dann seufzte sie tief. „Frau Schneider, Sie müssen mich für völlig bekloppt halten. Arvin hat Ihnen doch hoffentlich erzählt, dass ich aufgrund des Unfalls viel vergessen habe …?“
Frau Schneider nickte. „Er hat was von Amnesie gesagt …“
„Wann sind sie denn gestorben?“, erkundigte sich Livia. „Vor oder nach meiner Hochzeit?“
„Sie sind gestorben, als Arvin vierzehn war“, sagte Frau Schneider schlicht.
Livia erstarrte. Von einer Sekunde auf die nächste tauchte das Bild eines leeren Fotoalbums vor ihrem geistigen Auge auf. War das etwa der Grund …?
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