Als gaebe es kein Gestern
„Ist ihr was passiert? Ist sie verletzt?“
„Sie sollten wissen, dass es Ihnen freisteht, sich zur Sache zu äußern“, fuhr Hauptkommissar Walther fort. „Wenn Sie dies tun, werden diese Angaben mit in die Strafanzeige einfließen. Was Sie in jedem Fall beantworten müssen, sind Fragen zur Person.“
Frau Baumann schlug die rechte Hand vor den Mund und erstarrte von einem Moment auf den nächsten zu vollkommener Bewegungslosigkeit.
Und auch Arvin schien erst einmal sprachlos zu sein.
„Wenn Sie möchten, können Sie schon vor Ihrer Vernehmung einen selbst gewählten Verteidiger befragen“, vollendete Herr Walther seine Rede.
Die nächsten Sekunden herrschte absolute Stille.
Enno brach als Erster das Schweigen. „Ich werd dir einen Anwalt besorgen, Arvin“, sagte er atemlos. „Was hältst du von dem Perschall? Du weißt schon, der Typ, für den du das Programm geschrieben hast?“
Arvin schluckte schwer und schien nur langsam wieder zu sich zu kommen. „Kann ich jetzt mal erfahren, was passiert ist?“, fragte er.
„Ihre Frau ringt mit dem Tod“, antwortete Herr Walther. Seine Augen hatten sich zu wütenden Schlitzen verengt. „Und ich glaube, das ist nicht das erste Mal.“
Arvin blickte unwillkürlich zur Uhr. Es war Viertel nach fünf. „Aber heute Morgen“, stammelte er, „da ging es ihr doch noch gut.“
„Haben Sie heute Morgen mit ihr gesprochen?“, fragte Herr Walther argwöhnisch.
„Ich –“, begann Arvin, wurde aber von Enno unterbrochen. „Stopp!“, rief dieser dazwischen. „Ich würde doch sagen, du suchst dir einen Anwalt, bevor du irgendwelche Aussagen machst.“
Arvin schluckte nur und hob hilflos die Hände. „Wird sie sterben?“, krächzte er.
„Das muss sich erst noch rausstellen“, entgegnete Herr Walther knapp. „Kommen Sie jetzt mit?“ Er streckte gebieterisch die Hand aus und berührte Arvin an der Schulter.
Arvin nickte, machte aber ein Gesicht, als würde er den Kopf schütteln. Er schien völlig neben sich zu stehen.
„Der Anwalt“, erinnerte ihn Enno. „Sag nichts, bevor du mit ihm gesprochen hast.“
Arvin schloss kurz die Augen. „Kannst du Karen anrufen und ihr erklären, was passiert ist?“
„Kein Problem“, versicherte Enno und suchte in der Hosentasche nach seinem Handy.
„Sag ihr, dass ich nichts gemacht habe, okay?“
„Okay“, nickte Enno, klang aber nicht so, als wäre irgendetwas okay …
❧
Viele Stunden und eine lange Vernehmung später saß Arvin zusammengekauert auf einem Stuhl im Vernehmungsraum des Polizeireviers und starrte vor sich hin. Was er nicht wusste, war, dass Livia ihm dabei zusah. Sie stand nur wenige Meter von ihm entfernt, betrachtete ihn durch eine große Fensterscheibe und unterhielt sich im Flüsterton mit Hauptkommissar Walther.
„Es ist nicht notwendig, dass Sie so leise sprechen“, sagte dieser gerade. „Der Raum ist hervorragend schallisoliert. Er kann uns also nicht hören.“
Livia hörte ihn zwar, begriff aber nicht so recht, was er sagte. Ihre gesamte Aufmerksamkeit war auf Arvin gerichtet. Er sah völlig fertig aus und ließ Wellen von Mitleid durch ihr Herz strömen. „Glauben Sie wirklich, er hat es getan?“, flüsterte sie verzweifelt.
„In der Vernehmung sah es eigentlich nicht danach aus“, räumte Herr Walther ein. „Zumindest hat er sich nicht in Widersprüche verwickelt. Andererseits war die Heizung definitiv manipuliert und es gab keinerlei Anzeichen für einen Einbruch. Außerdem haben Sie selbst gesagt, dass außer Ihrer Schwägerin und der Nachbarin niemand einen Schlüssel besitzt …“
„Er sieht nicht aus wie ein Mörder“, murmelte Livia und wärmte mit den Händen ihre Oberarme.
„Welcher Mörder sieht schon wie einer aus“, lachte Kommissar Walther und blickte auf Livia herab. Er war anderthalb Köpfe größer als sie.
Livia seufzte tief. „Wenn das Fenster nicht aufgeweht wäre und Gunda sich nicht darüber gewundert hätte … und wenn sie nicht rübergekommen und einen Blick durchs Fenster riskiert hätte …“
„Dann wären Sie an einer Kohlenmonoxidvergiftung gestorben“, nickte Herr Walther.
„Und das nur, weil die Abgase nicht weg konnten?“, fragte Livia.
„Na ja, nicht ganz. Erstens hat jemand das Rohr mit einem alten Lappen verstopft, zweitens war die Heizung trotz der milden Jahreszeit auf volle Pulle gestellt, drittens waren alle Fenster verschlossen, viertens stand die Tür zu Ihrem Schlafzimmer auf. Das musste schon alles
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