Als gaebe es kein Gestern
wollte nur sichergehen, dass mit Livia alles geklappt hat.“
„Zieh deine Jacke aus und setz dich aufs Sofa. Ich hol uns was zu trinken.“
Karen seufzte zum dritten Mal, tat aber, wie ihr befohlen, und saß schon wenig später in Pullover und dicken Socken auf Arvins schwarzer Ledergarnitur.
„Ein KiBa, stimmt’s?“, lächelte Arvin, als er mit Karens Lieblingsgetränk ins Wohnzimmer zurückkehrte.
Karen verschränkte die Arme vor der Brust. Irgendwie hatte sie im Moment so überhaupt keine Lust auf Bananen-Kirsch-Saft. Sie hatte sich den ganzen Tag mit Vanessa durch diesen Freizeitpark gekämpft und war jetzt furchtbar erschöpft. Außerdem hatte sie schon wieder dieses Völlegefühl im Magen, das ihr in letzter Zeit immer häufiger zu schaffen machte. „Wenn du glaubst, dass mich das milder stimmt …“, drohte sie.
Arvin hatte sich ein Bier mitgebracht, verteilte die Getränke und ließ sich ebenfalls auf dem Sofa nieder. „Glaubst du, Livia ist lebensmüde?“, begann er unvermittelt.
Die Augen seiner Schwester weiteten sich. „Wie … wie kommst du denn darauf?“
„Sag’s mir“, bat er. „Du kennst sie viel besser als ich. Würdest du ihr … na ja … zutrauen, dass sie sich umbringt?“
Karen stand der Mund offen. „Ist irgendetwas Schlimmes passiert?“, krächzte sie.
Arvin schüttelte eilig den Kopf. „Nein, es ist alles gut gegangen, aber … na ja … nur knapp.“
Karen fröstelte plötzlich. „Du warst also da.“
„Ja, aber sie war nicht in ihrem Zimmer. Die Schwester und ich, wir haben sie auf dem Dach gefunden.“
„Auf dem Dach …“ Karen fuhr sich durch die langen rötlich-braunen Haare, formte einen Pferdeschwanz daraus und ließ die Haare anschließend wieder fallen. „Aber sie verlässt nie allein ihr Zimmer!“, brach es aus ihr hervor.
„Ich weiß“, seufzte Arvin. „Und das ist auch noch nicht alles …“
„Arvin“, jammerte Karen. „Jetzt lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen!“
„Der einzige Zugang zum Dach war abgeschlossen.“
Einen Moment lang herrschte Schweigen. Dann keuchte Karen: „Willst du damit sagen, dass sie sich einen Schlüssel besorgt hat, aufs Dach gestiegen ist und anschließend wieder hinter sich abgeschlossen hat?“
„Wäre es möglich?“
„Möglich? Nein! Sie ist noch ein Kind … Ich meine … zumindest geistig … Sie weiß nicht, wer sie ist … Im Grunde ist sie völlig verängstigt! Zu einer solchen Tat … einer überlegten Tat in diesem Sinne … wäre sie niemals fähig!“
„Mir kam es auch komisch vor, zumal sie keinen Schlüssel bei sich trug.“
„Nicht?“ Karen hatte sich inzwischen weit auf ihrem Platz nach vorn gebeugt und rieb nervös ihre Oberarme.
„Nein. Und er wurde auch auf dem Dach nicht gefunden.“
„Vielleicht hat sie ihn runtergeworfen.“
Arvin sah auf und blickte seiner Schwester prüfend ins Gesicht. „Du traust es ihr also doch zu …“
„Nein!“ Karen war aufgesprungen und wanderte jetzt beunruhigt durch Arvins Wohnzimmer. „Wie schon gesagt, sie verlässt niemals freiwillig ihr Zimmer. Und wenn, dann muss ich zumindest in ihrer Nähe sein! Du weißt es doch auch! Ich wäre niemals mit Vanessa in den Freizeitpark gefahren, wenn man mir nicht versprochen hätte, dass Livia ausnahmsweise den ganzen Tag in ihrem Zimmer bleiben darf!“
Arvin nickte. „Ja, das hab ich der Polizei auch gesagt. Und Schwester Barkfrede hat’s bestätigt. Trotzdem ist die Polizei wie selbstverständlich von einem Selbstmordversuch ausgegangen.“
Karen war vor dem Kamin stehen geblieben und starrte nun in die Flammen, wie es ihr Bruder zuvor getan hatte. „Für einen Anschlag auf ihr Leben gibt es ja auch kein Motiv …“ – einen Moment lang schien sie zu zögern – „kein ernst zu nehmendes jedenfalls.“
Arvin legte den Kopf schief. „Welches nicht ernst zu nehmende Motiv fällt dir denn ein?“
Karen machte eine wegwerfende Handbewegung und kehrte zum Sofa zurück. „Vergiss es einfach.“ Dann griff sie nach ihrem KiBa und würgte einen Schluck herunter. „Lecker.“
Arvin nahm den Blick nicht von ihr. „Welches nicht ernst zu nehmende Motiv, Karen?“, wiederholte er.
Karen stellte den KiBa auf den Couchtisch zurück. Dann blickte sie angestrengt auf das Glas. „Fällt dir jemand ein, der sie lieber tot als lebendig sehen würde, hm?“
Arvin schwieg.
„Es ist doch so, oder nicht?“, fragte Karen.
„Deswegen würde ich sie doch nicht umbringen“, presste
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