Als gaebe es kein Gestern
Arvin mühsam hervor.
„Ich weiß“, sagte Karen leise. „Aber schon die Tatsache an sich ist ziemlich schlimm …“
Arvin rang die Hände. „Was erwartest du?“
Karen legte ihre rechte Hand auf seine beiden und brachte sie damit zur Ruhe. „Ich kann mir vorstellen, wie du dich fühlst, Arvin. Aber Livia ist nicht mehr dieselbe wie vorher. Und sie braucht jetzt unsere Hilfe.“
„Ich kann nicht“, entfuhr es Arvin. Und dann schüttelte er hektisch den Kopf. „Ich kann einfach nicht.“
„Sie weiß nichts mehr von früher“, beharrte Karen.
„Schon möglich … Die Frage ist nur, wie lange dieser Zustand anhält. Ihre Erinnerung kann jederzeit wiederkommen, oder nicht? Und ihr Verstand auch. Zumindest ist es nicht ausgeschlossen, das hast du selbst gesagt.“
„Wäre es dir lieber, wenn sie für den Rest ihres Lebens auf dem Stand eines Kleinkindes bliebe?“
„Ich weiß es doch nicht!“, brüllte Arvin und sprang auf. Während er weitersprach, gestikulierte er wild mit seinen Händen. „Lieb wäre mir jedenfalls, wenn ich wüsste, was auf mich zukommt! Ich bin mit ihr verheiratet, Karen. Ich bin für sie verantwortlich. Hast du eine Ahnung, wie sich das anfühlt?“
„Du solltest auf Gott vertrauen, Arvin. Er weiß schon, was er dir zumuten kann.“
Arvin sackte in sich zusammen. „Bist du sicher?“
„Du nicht?“
„Nicht mehr irgendwie … Ich meine … ich glaube schon noch an ihn … hier jedenfalls …“ – er deutete an seine Stirn – „aber hier …“ – er deutete auf sein Herz – „herrscht gähnende Leere. Ich meine … er nimmt mir alles weg, was ich besitze … Ich verstehe ihn einfach nicht.“
„Alles hat seinen Sinn“, flüsterte Karen. „Du wirst es schon noch verstehen.“
„Hoffentlich“, seufzte Arvin, „hoffentlich.“
Kapitel 7
„Woher weiß ich, dass ich tatsächlich Livia bin?“
Karen blickte auf, fuhr aber fort, Livias rechte Hand einer kräftigen Massage zu unterziehen. Sie saß neben ihr auf dem Krankenhausbett und hatte feuchte Hände von dem Massageöl, das durchdringend nach einer Mischung aus Orange und Arnika duftete. Während sie die Innenflächen durchknetete und vor allem die Verlängerung des Daumens bearbeitete, betrachtete sie die Frau, die vor ihr saß. Im letzten halben Jahr hatte sie erstaunliche Fortschritte gemacht. Vor allem sprachlich merkte man ihr kaum noch ein Defizit an. Und sie stellte intelligente Fragen – für Karens Geschmack sogar manchmal zu intelligente.
Im Grunde hatte sie tatsächlich wenig Ähnlichkeit mit Livia. Oder? Karen war sich nicht mehr sicher. Eigentlich erinnerte sie sich kaum an die alte Livia. Es war so lange her … Wie hatte ihre Stimme geklungen? Wie ihr Lachen? Wie war sie gegangen? Wie hatte sie gesprochen? Worüber hatten sie sich unterhalten? In letzter Zeit hatte sie sich diese Fragen nicht gerade selten gestellt. Und noch häufiger hatte sie bedauert, dass sie keine Videoaufnahme von Livia besaß. Nur Fotos. Und die reichten anscheinend nicht aus, um die Erinnerung wieder aufzufrischen.
Livia hatte einen Spiegel in ihrer linken Hand und blickte in kleineren Abständen hinein.
Ist nicht gerade erfreulich, was du siehst, nicht wahr ?, dachte Karen. Nachdem Livia zum dritten Mal an ihrer Nase operiert worden war, hatte diese endlich wieder Ähnlichkeit mit einer solchen. Aber sie war immer noch von Narben übersät und von Verfärbungen überzogen. „Du weißt es nicht“, sagte sie heiser. „Du musst uns einfach glauben.“
„Uns?“, wiederholte Livia.
„Arvin und mir“, entgegnete Karen und arbeitete sich nunmehr von der Handinnenfläche zum kleinen Finger hoch.
Obwohl Livia große Schwierigkeiten damit hatte, ihre rechte Hand zu gebrauchen, ballte sich diese jetzt zur Faust und umschloss dadurch Karens Finger. „Ich mag ihn nicht“, flüsterte sie.
Karen entzog Livia ihre Hand. „Aber er ist dein Mann …“
„Das behauptest du!“, gab Livia zurück. „Aber du hast es mir niemals bewiesen. Es könnte doch auch eine Verwechslung sein …“
„Erstens“, begann Karen und war selbst froh, dass sie sich die Fakten noch einmal in Erinnerung rufen konnte, „gibt es keinen Menschen auf dieser Welt, der behauptet, Livia Scholl zu sein. Nur du allein kommst für diese Rolle in Betracht. Zweitens hat man dich in einem Wagen gefunden, der Livia Scholl gehörte. Drittens trugst du Kleidung, die Arvin und ich erkannt haben, und zwar nicht nur eine Jacke, sondern auch Hose,
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