Als gaebe es kein Gestern
Antwort war zu einfach, zu … oberflächlich. Das wahre Problem lag tiefer, es war vielschichtiger. Aber was nur, was hatte sie an sich … in sich, das so viel Abscheu produzierte?
Sie hatte Karen schon oft darauf angesprochen, aber nie eine zufriedenstellende Antwort erhalten. Karen wollte ihr nicht antworten, das war ihr längst klar. Und Arvin? Der mied sie sowieso, als hätte sie eine ansteckende Krankheit.
Dabei musste sie eine Antwort bekommen. Ja, sie musste. Ihr Leben hing davon ab. Ihre Identität. Vielleicht … ganz vielleicht … war das, was Arvin und sie voneinander trennte, auch der Schlüssel zu ihrem Gedächtnis?
Kapitel 8
Auch in den darauffolgenden Monaten hielten Livias Fortschritte an. Abgesehen von den Schwierigkeiten in der Feinmotorik ihrer rechten Hand konnte sie bald alle Gliedmaßen wieder hervorragend benutzen. Und auch ihre Lern- und Merkfähigkeit steigerte sich auf ein durchaus akzeptables Niveau.
Ein Problem stellten allerdings die Kopfschmerzen dar, mit denen sie zu kämpfen hatte. Meist traten sie morgens auf, wenn sie eine Nacht mit fürchterlichen Albträumen hinter sich hatte.
Livia hasste diese Albträume. Sie hatte das Gefühl, als brächten sie alles in ihr durcheinander. Am Morgen danach wusste sie manchmal nicht mehr, wie sie hieß und wo sie war. Es dauerte dann bis zu zwei Stunden, bis sie wieder einigermaßen klar war. Am Schlimmsten aber war die Tatsache, dass mit den Träumen niemals Erinnerungen zurückkehrten. Alles, was vor dem Unfall war, blieb eine schwarze, undurchdringliche Masse.
Erfreulich waren hingegen die Veränderungen in Livias Gesicht. Die Operationen wirkten Wunder und hatten bald ein Aussehen geschaffen, mit dem sie sich nicht mehr schämen musste. Allmählich gab es auch wieder Ähnlichkeiten zu früher. Die Nase entsprach dem Bild, das Livia in ihrem Nachttisch hatte. Sie war gerade, nicht allzu lang und durchaus hübsch. Außerdem waren ihre braunen Haare auch dort, wo sie die schwersten Kopfverletzungen erlitten hatte, wieder gewachsen. Livia trug sie genauso, wie sie es auf dem Bild gesehen hatte: kinnlang, ohne Pony und durchgestuft. Seltsamerweise gab es dennoch erhebliche Unterschiede zu früher. Durch die Stufen kamen deutliche Wellen zum Vorschein, was der Frisur ein erhebliches Volumen verlieh. Auf dem Foto aber sahen die Haare vollkommen glatt aus. Wie passte das zusammen?
„Haare ändern sich eben“, antwortete Karen, als sie auf dieses Thema angesprochen wurde.
„Alle sieben Jahre“, nickte Livia, „das hat zumindest der Friseur gesagt. Ich wundere mich nur … na ja … dass dieser Zeitpunkt ausgerechnet mit dem Unfall zusammenfällt.“
„Hör auf, Livia“, schimpfte Karen und blieb stehen. Sie schlenderte mit ihrer Schwägerin über eine Wiese, die sich ganz in der Nähe des Krankenhauses befand. Es war inzwischen Herbst und Livias Unfall lag schon ein ganzes Jahr zurück. Trotz der Jahreszeit war es heute ungewöhnlich warm und die Sonne knallte aus allen Rohren vom Himmel. Während Karen dies sichtlich genoss, hatte sich Livia unter einem riesigen Sonnenhut versteckt. Sie musste noch unheimlich aufpassen. Vor allem ihr Kopf war furchtbar empfindlich. Wenn er mit Sonnenstrahlen in Berührung kam, brannte er sofort wie Feuer. Außerdem wurden die Kopfschmerzen dadurch begünstigt. „Es bringt doch nichts, wenn du dieses Thema immer wieder aufwärmst. Du bist Livia Scholl, und damit basta!“
Livia verschränkte beleidigt die Arme vor der Brust. „Ich wär nur gern sicher. Das ist alles.“
„Da“, sagte Karen und deutete auf eine noch intakte Pusteblume, die am Wegesrand stand, als hätte man sie vergessen. Sie wurde vom Wind sanft hin und her geschaukelt. Karen ging ein paar Schritte darauf zu, bückte sich und pflückte sie. „Guck mal.“ Sie holte ganz tief Luft und blies kräftig gegen die Samenfäden. Diese stoben davon, tanzten noch eine Weile durch die Luft und ließen sich dann weit verteilt auf dem Gras nieder. „Erst sah sie gelb aus und duftete, dann wurde sie zur Pusteblume und jetzt ist nur noch ein Stängel übrig geblieben.“ Karen hielt Livia den Stängel vor die Nase. „Trotzdem ist es noch dieselbe Blume. Glaub mir, sie würde sich selbst nicht wiedererkennen!“
Livia verzog den Mund. „Diese Blume ist tot, Karen. Deshalb gibt es keine Ähnlichkeit mehr. Ich aber lebe noch!“ Als müsse sie dies unter Beweis stellen, setzte sie sich wieder in Bewegung. Wenn sie mit ihren nackten Füßen
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