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Als gaebe es kein Gestern

Als gaebe es kein Gestern

Titel: Als gaebe es kein Gestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kirsten Winkelmann
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Bluse und Unterwäsche. Außerdem hattest du deinen Ausweis bei dir, deinen Trauring, deine Uhr und dein Lieblingsarmband. Viertens hast du Livias Größe, ihre Statur, ihre Augenfarbe und Haarfarbe. Wie kann es da noch Zweifel geben?“
    „Aber ich fühle mich nicht wie eine Livia“, brach es in voller Verzweiflung aus Livia hervor.
    „Wie fühlst du dich dann?“, fragte Karen, obwohl sie wusste, dass sie ihrer Schwägerin damit wehtun würde. „Wie eine Petra? Oder eine Brigitte?“
    Livia entzog Karen ihre Hand und drehte ihr demonstrativ den Rücken zu. „Du bist so gemein!“, schluchzte sie auf.
    „Livia“, beschwor Karen ihre Freundin. „Ich bin nicht gemein. Ich sehe nur den Tatsachen ins Auge. Du bist Livia. Es gibt keine andere Erklärung. Und ich an deiner Stelle würde mich allmählich damit abfinden.“
    „Du hast gesagt, dass Livia gut zeichnen konnte“, probierte Livia und wandte sich Karen voller Hoffnung wieder zu. „Ich hingegen krieg nicht mal ein vernünftiges Haus gemalt!“ Sie deutete auf ihren Nachttisch, wo ein Wust von Zetteln darauf hindeutete, dass sie diese angebliche Fähigkeit intensiv ausprobiert hatte. „Ich stelle mich total dumm an. Ich kann unmöglich Livia sein.“
    „Du kannst deine rechte Hand doch noch gar nicht richtig gebrauchen. Außerdem hab ich mit Dr. Kopp über dieses Thema gesprochen. Bei der Schwere deines Unfalls ist es nicht verwunderlich, dass du Fähigkeiten eingebüßt hast!“
    Livia antwortete nicht. Aber ihr Blick wirkte so verloren, so hilflos, dass Karen sie spontan umarmte. „Ich bin doch da“, tröstete sie ihre Schwägerin. „Wir stehen das gemeinsam durch!“
    Livia schüttelte den Kopf. „Du fühlst nicht, was ich fühle“, sagte sie und schob Karen entschieden von sich. Dann wandte sie sich nach rechts, öffnete die Schublade ihres Nachttischchens und kramte ein zerknittertes Foto daraus hervor. „Nichts davon hat irgendetwas mit mir zu tun“, jammerte sie. „Gar nichts.“
    Karens Blick auf Livias Foto war nicht minder skeptisch. „Wenn ich ehrlich bin“, seufzte sie, „kann ich auch keine Ähnlichkeit feststellen. Aber das muss ich auch nicht. Die Tatsachen sind überzeugend genug. Und denk mal an deine Begeisterung für jede Art von Blumen. Du bist gelernte Floristin! Das passt doch wie die Faust aufs Auge!“
    „Das ist das Einzige, was passt …“
    „Und wenn schon! Du solltest froh sein, dass du eine Identität hast. Schließlich gibt es keine Alternative. Oder willst du ein Niemand sein?“
    ❧
    Willst du ein Niemand sein ? Die Worte hallten noch lange in Livias Kopf nach. Natürlich wollte sie das nicht! Sie wollte weder namenlos noch allein sein. Im Gegenteil! Niemand konnte wirklich ermessen, wie froh sie war, dass es Karen gab! Instinktiv wusste sie, dass ihr Karens aufopfernde Pflege das Leben gerettet hatte. Gute, liebe, selbstlose Karen!
    Noch glücklicher wäre sie allerdings gewesen, wenn es nur Karen für sie gäbe. Karen und Vanessa, genau. Ohne Arvin. Ohne diesen großen dunklen Mann mit der tiefen Stimme und dem strengen Blick. Dem vorwurfsvollen Blick.
    Sie fragte sich schon lange, was es war, das er ihr vorwarf. War es der Unfall? War sie vielleicht zu schnell gefahren? Oder hatte sie einen schlimmen Fahrfehler begangen? Hatte sie vielleicht sein Lieblingsauto kaputt gemacht? Oder war es ihr Aussehen? Widerte sie ihn einfach an?
    Wenn sie ihr eigenes Spiegelbild betrachtete, erschien ihr diese Antwort nicht unwahrscheinlich. Sie war abgrundtief hässlich. Immer noch – oder immer wieder – gab es verbundene Stellen in ihrem Gesicht, geschwollene Bereiche, herunterhängende Partien, die über keinerlei Gefühl verfügten und nicht gesteuert werden konnten.
    Arvin … nicht nur ein seltsamer Name, sondern noch ein seltsamer Mann …
    Am schlimmsten war die Tatsache, dass sie seinetwegen so hin- und hergerissen war. Manchmal hasste sie ihn für sein Verhalten. Manchmal fand sie es verständlich. Manchmal hoffte sie darauf, dass es sich ändern würde. Manchmal fürchtete sie genau das …
    Sie seufzte tief, griff einmal mehr nach dem Spiegel, der stets auf ihrem Nachttisch lag, und blickte hinein. Immerhin leuchteten ihr ein Paar wacher blauer Augen entgegen. Ihr Verstand funktionierte wieder!
    Sie konzentrierte sich auf ihre Augen und versuchte, den Rest des Gesichtes zu vergessen. Sicher, sie war hässlich, aber sie spürte auch, dass es nicht allein ihr Aussehen war, das Arvin abstieß. Nein, diese

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