Als gaebe es kein Gestern
zum Lattenrost hochblickte, kamen ihr die ersten Zweifel. War sie noch ganz bei Trost? Arvin hatte gesagt, dass sie, sobald er das Haus verlassen hatte, machen konnte, was sie wollte. Wenn er jetzt zurückkam, war das sein Problem!
Trotz dieser Gedanken sah sich Livia nicht in der Lage, ihre Position wieder zu verlassen. Sie hatte einfach das Gefühl, als wäre es überall sonst viel zu gefährlich.
Erst als sie hörte, wie jemand ihren Namen rief, erwachte sie aus ihrer Starre.
„Karen?“, antwortete sie hoffnungsvoll und krabbelte unter dem Bett hervor.
„Du hast schon wieder Zucker gegessen“, hörte sie Karen aus Richtung Küche schimpfen. „Dabei weißt du ganz genau, dass du nicht so viel Süßes essen darfst. Du bist gerade erst aus dem Krankenhaus entlassen worden.“
„Karen“, seufzte Livia und eilte in die Küche, wo sie sich auf direktem Wege in Karens Arme warf. „Karen! Ein Glück!“
„Und sieh dir diesen Toast an“, fuhr Karen unbeirrt fort. „Da ist so viel Zucker drauf, dass du einen Kuchen davon backen könntest!“
Livia klammerte sich an Karens Nacken fest, als wollte sie sie nie wieder loslassen. Essen war nicht alles … „Wenn ich bei dir wohnen darf, ess ich nie wieder Zucker“, schluchzte sie auf. „Versprochen!“ Beinahe im gleichen Moment spürte sie, wie Karen sich versteifte. „Es tut mir leid“, schob Livia hinterher. „Ich bleibe natürlich hier.“ Aber ihre Worte klangen so verzweifelt, dass Karen einen Schritt zurücktrat und Livia erst einmal prüfend betrachtete.
„Er hat dich wohl nicht sehr freundlich aufgenommen“, schlussfolgerte sie.
„Er will mich nicht sehen!“, brach es aus Livia hervor. „Er will, dass ich in meinem Zimmer bleibe, wenn er zu Hause ist.“
Karen seufzte tief. „Das tut mir wirklich leid …“
„Ist das alles?“, fragte Livia empört. Sie wollte doch, dass Karen etwas daran änderte!
Karen zuckte ein wenig hilflos die Achseln. „Wir wussten beide, dass er bei deiner Ankunft nicht laut ‚Hurra‘ schreien würde, oder?“
„Aber was soll ich denn jetzt machen?“, brach es aus Livia hervor. „Du hast selbst gesagt, dass ich hier nichts verändern darf. Womit, bitte schön, soll ich dann die Zeit totschlagen?“
„Komm mit, ich zeig es dir“, lächelte Karen und zog Livia am Arm in Richtung Flur. Dort stand ein riesiger Einkaufskorb auf dem Fußboden, der mit Unmengen von Obst und Gemüse gefüllt war. Karen beachtete ihn allerdings nicht, sondern steuerte auf die Garderobe zu. Sie griff nach ihrer dunkelbraunen Handtasche, öffnete sie und zauberte ein Taschenbuch daraus hervor. „Hier, das hab ich von zu Hause mitgebracht. Es ist ein toller Roman.“
Livias Augen weiteten sich – allerdings vor Entsetzen und nicht vor Begeisterung. Das Buch war mindestens so dick wie hoch. Sie sah zu Karen auf. „Du weißt, dass ich noch nicht wieder flüssig lesen kann“, sagte sie vorwurfsvoll. „Wie kannst du mir dann so einen Schinken geben?“
„Und du weißt, dass du das Lesen dringend üben musst“, antwortete Karen streng. „Außerdem wird es allmählich Zeit, dass du die Schulbücher durch was Richtiges ersetzt. Abgesehen davon hast du selbst gesagt, dass du dich langweilst. Warum also nicht?“
Livia verzog entgeistert das Gesicht. „Warum also nicht? Warum – also – nicht ? Ich hab wochen- … ach, was red ich … monatelang diesen Unterricht besucht, Karen. Wie ein Kind. Und ich hab es auch gehasst wie ein Kind. Aber jetzt hab ich Urlaub. Das ist das Einzige, was mir an der jetzigen Situation gefällt. Und das werd ich ganz bestimmt nicht hergeben.“
„Wie du meinst.“ Karen pfefferte das Buch mit einer ziemlich verärgerten Bewegung auf die kleine Anrichte im Flur. „Du bist ja auch erst seit gestern hier. Noch ein bis zwei Wochen und du wirst mir dafür die Füße küssen. Wart’s nur ab!“
Livia schluckte. „Du glaubst nicht, dass sich hier etwas ändern wird, oder?“
„Also, wenn du Arvin meinst … Nein. Das glaube ich nicht.“
„Aber es muss doch eine Möglichkeit geben, Zugang zu ihm zu finden“, überlegte Livia. „Was mag er denn? … Ich meine … was braucht er? Würde es ihn zum Beispiel freuen, wenn ich ihm das Haus auf Vordermann bringe?“ Nötig ist es jedenfalls , dachte sie. Bei ihrem gestrigen Rundgang hatte sie ziemlich viel Staub, jede Menge Schmutzwäsche und viel zu viel Altglas vorgefunden …
Karen zuckte resignierend die Achseln. „In letzter Zeit hab ich
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