Als gaebe es kein Gestern
ausgesprochen, dass es das Gästezimmer war. „Hat sie“, gab Livia zur Antwort. „Aber ich kann nicht vierundzwanzig Stunden am Tag im Gästezimmer sitzen …“
„Das musst du auch nicht“, entgegnete Arvin und schien aus seiner Starre zu erwachen. Allerdings hatte das nichts Positives. Die Leidenschaft, die in seinen schwarzen Augen funkelte, war eher düsterer Natur … „Um mal Klartext zu reden: Die meiste Zeit bin ich sowieso im Büro. In dieser Zeit kannst du dich aufhalten, wo du möchtest. Aber wenn ich gegen Abend oder noch später nach Hause komme, dann möchte ich das Wohnzimmer für mich haben. Das ist fair, wie ich finde. Genauso verhält es sich morgens. Ich frühstücke gegen neun. Es wäre toll, wenn du um diese Zeit noch schlafen würdest. Anschließend kannst du tun und lassen, was du willst.“
Livias Mund öffnete sich wie von selbst, gab aber keinen Ton von sich. Das hier war so anders, so vollkommen anders, als sie sich die erste Begegnung mit Arvin vorgestellt hatte …
„In Ordnung?“
Livia schaffte es, wie in Trance zu nicken, dann schloss sich die Wohnzimmertür und Arvin war verschwunden. Seine Schritte hallten hart und kalt durch den Flur.
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Als Livia am nächsten Morgen erwachte, fror sie wie ein Schneider. Zum Teil hing das einfach damit zusammen, dass sie vergessen hatte, die Heizung anzustellen. Zum anderen war es darauf zurückzuführen, dass sie gestern kaum etwas gegessen hatte. Zuerst war es die Nervosität gewesen, dass sie Arvin zum ersten Mal seit Langem begegnen würde, und anschließend war sie nur noch konsterniert in ihr Zimmer geflüchtet. Da war es kein Wunder, dass sich ihr Magen jetzt umso stärker in Erinnerung rief.
Livias erster Blick galt ihrer Uhr. Es war kurz nach halb neun.
Sie richtete sich auf, um ihre Ohren frei zu bekommen, und lauschte in die Umgebung hinein.
Und tatsächlich. Da waren leise Geräusche, die erst an Schritte und dann an das Scharren eines Stuhles erinnerten. Wenige Sekunden später ertönte ein Geräusch, das sie mit dem Klicken eines Toasters in Verbindung brachte.
Ich frühstücke gegen neun. Es wäre toll, wenn du um diese Zeit noch schlafen würdest, hallten Arvins Worte drohend durch ihren Kopf.
Sie schluckte schwer und verkroch sich wieder unter ihre Bettdecke. Das hier war ein einziger Albtraum!
Zitternd vor Kälte und Einsamkeit zählte sie die Minuten, bis sie endlich den Wagen vom Hof fahren hörte. Erst dann atmete sie halbwegs auf, verließ das Bett und zog sich an. Da sie nicht aufhörte zu frieren, zog sie zwei T-Shirts unter ihr Sweatshirt und begab sich dann dick eingemummelt – aber wie immer barfuß – in die Küche.
In einem der Schränke fand sie eine angebrochene Packung Toast, Butter und zwei Gläser Marmelade. Erdbeer und Kirsche – igitt. Sie wusste nicht, warum sie diese Sorten hasste, es war einfach so. Auf der Suche nach etwas anderem durchstöberte sie den Kühlschrank, fand aber nur Ketchup, Senf, Milch, Käse und Wurst. Dabei brauchte sie unbedingt etwas Süßes zum Frühstück! Sie suchte weiter und stieß in einem der anderen Schränke zumindest auf ein bisschen Zucker. Warmer Toast mit zerlaufener Butter und einem Berg von Zucker – das hatte doch was!
Während sie einen Toast nach dem anderen verschlang, rieselte der Zucker in Massen auf Tisch und Fußboden. Aber das störte sie nicht. Schließlich hatte sie alle Zeit der Welt, um nachher wieder sauber zu machen.
Das Toastbrot verkleinerte sich zusehends. Vielleicht war es in Arvins Haus doch nicht so schlecht. Wenigstens konnte sie essen, was sie wollte. Während sie kaute, betrachtete sie mit einer Mischung aus Interesse und Faszination die abgenutzte, blau-weiß gemusterte Tapete. Je länger sie das tat, desto stärker wurde dieses seltsame Gefühl, das wie ein Ruf von weither wirkte … Aber als sie versuchte, ihn zu verfolgen, löste er sich einfach in Luft auf. Sie probierte es noch einmal und starrte geradezu beschwörend auf die Tapete. Aber jetzt kam gar nichts mehr, nicht einmal mehr das Gefühl von eben. War es der Hauch einer Erinnerung gewesen? Und war das der Beweis dafür, dass sie tatsächlich hierher gehörte? Dass sie das Haus brauchte, um den Weg in die Vergangenheit zu finden? Dass sie tatsächlich Livia Scholl
war?
Noch während sie darüber nachdachte, hörte sie, wie ein Auto auf den Hof fuhr.
Vor lauter Schreck sprang Livia auf, rannte in ihr Zimmer und schlitterte unter ihr Bett. Als sie schwer atmend
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