Als gaebe es kein Gestern
fest, dass diese lautlos zu weinen begonnen hatte.
„Oh nein, Karen!“, rief Livia aus und griff nach ihrem Arm. „Jetzt wein doch nicht! Ich hab’s nicht so gemeint, ehrlich!“
„Ich kann doch nichts dafür“, schluchzte Karen. „Ich werd allem nicht mehr gerecht. Dir nicht. Dem Job nicht. Vanessa nicht. Und ich hab ewig diese Bauchschmerzen!“
„Bauchschmerzen?“, wiederholte Livia alarmiert. Und dann ließ sie Karen vor Schreck wieder los. „Davon wusste ich nichts!“
Karen kramte ein Taschentuch aus der Hosentasche hervor und schnäuzte sich. „Ich wollte dich nicht beunruhigen.“
Livia fröstelte und verschränkte Schutz suchend die Arme vor der Brust. „Hast du jetzt Bauchschmerzen?“
Karen schüttelte den Kopf. „Nein, heute geht’s eigentlich.“
„Und wie oft hast du diese Schmerzen?“
„Ach, lass doch“, wiegelte Karen ab und wischte sich eilig die Tränen aus dem Gesicht. „So schlimm ist es auch wieder nicht.“
„Wie oft, Karen?“, beharrte Livia.
Karen seufzte tief. „Alle paar Tage vielleicht …“
„Und was sagen die Ärzte dazu?“
Karen zuckte die Achseln. „Na ja …“
„Soll das heißen, dass du noch gar nicht beim Arzt warst?“, bohrte Livia.
Karen senkte den Blick. „Man kann doch nicht wegen jeder Kleinigkeit zum Arzt rennen“, nuschelte sie. „Außerdem … hab ich ja gedacht, dass es bald besser wird.“
Livia hatte eine Gänsehaut. „Aber das wird es nicht“, stellte sie fest.
Karen steckte ihr Taschentuch wieder ein. „Nicht wirklich“, musste sie zugeben.
„Und wie lange geht das schon so?“
„Ein paar … Monate, schätze ich.“
„Monate?“, wiederholte Livia entsetzt. „Seit meinem Unfall, oder was?“
Karen zuckte die Achseln. „Es fing erst irgendwann danach an, denke ich.“
„Puh“, machte Livia und griff sich mit einer Hand an die Stirn. „Das ist starker Tobak! Vor allem, weil du nie etwas gesagt hast …“ Dann blickte sie auf. „Weiß Arvin davon?“
Karen schüttelte den Kopf.
„Tolle Beziehung habt ihr da“, kommentierte Livia trocken. „Scheint nicht viel besser zu sein als unsere Ehe …“
„Ich konnte ihn nicht damit belasten“, verteidigte sich Karen. „Er hat furchtbar viel zu tun.“
„Du konntest ihn nicht mit deiner Krankheit belasten … Du konntest ihn nicht mit seiner Ehefrau belasten … Ich verstehe schon …“
„Nichts verstehst du!“, fauchte Karen. „Arvin ist ein geradliniger, verantwortungsbewusster und fürsorglicher Mensch. Und er hat es schwer gehabt im Leben. Da ist es doch nicht verwunderlich, wenn ich versuche, ihm den Rücken frei zu halten.“
„Ich weiß nicht …“, zweifelte Livia. Geradlinig konnte ja noch hinkommen, aber verantwortungsbewusst ? Und fürsorglich ? „Apropos fürsorglich“, wechselte sie das Thema. „In Anbetracht der Tatsache, dass du kein Auto besitzt und andauernd Bauchschmerzen hast, werde ich nicht zulassen, dass du weiterhin für mich einkaufst.“
„Traust du dir denn zu, die Einkäufe selbst zu erledigen?“, wollte Karen wissen.
Livia nickte eifrig. Das viele Obst und Gemüse in dem Einkaufskorb war Motivation genug …
„Wir können ja noch mal üben gehen, wenn du willst“, schlug Karen vor. „Am besten sofort. Das Wetter ist super und ich könnte ein bisschen frische Luft gebrauchen.“
„Toll“, strahlte Livia und kaufte im Geiste schon Schokolade und Gummibärchen. Dieses gesunde Zeug war einfach nicht zum Aushalten … „Ich zieh mich noch kurz um und dann geht’s los. Kannst du inzwischen die Einkäufe wegpacken?“
„Sicher.“
In ihrem Zimmer angekommen, entledigte sich Livia zuerst der T-Shirts und tauschte dann ihr blaues Sweatshirt gegen einen schlichten beigefarbenen Pullover. Dann ging sie ins Badezimmer und bearbeitete ihre Haare. Sie war schon eine ganze Weile damit beschäftigt, als sich die Tür öffnete.
„Alles fertig“, verkündete Karen und lehnte sich gegen den Türrahmen.
„Ein paar Minuten brauche ich aber noch.“
„Kein Problem“, entgegnete Karen und beobachtete Livia beim Fönen. Sie machte das schon wieder ganz geschickt. Allerdings fiel deutlich auf, dass sie in erster Linie die linke Hand benutzte und die rechte nur zur Unterstützung einsetzte.
Livia schien ihre Gedanken zu lesen. „Sag jetzt nichts. Die Ärzte haben gesagt, dass es ganz in Ordnung ist, wenn ich zur Linkshänderin werde.“ Und dann verteilte sie mit links eine Ladung Haarspray auf ihrer dunklen
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