Als Gott ein Kaninchen war
Gekraule ihrer feisten Finger scheinbar, während ganze Büschel seines Fells achtlos zu Boden fielen.
» Autsch«, sagte er. » Verdammt, mach das bloß nicht noch mal. Mistgöre. Autsch.«
Ich beugte mich hinunter, um mein Glas zu nehmen, und als ich das tat, sah ich eine Zeitschrift, die halb unter dem Sessel versteckt lag. Ich wusste bereits bevor ich sie aufschlug, um was es sich handelte– konnte es am Titelblatt erkennen–, aber ich schlug sie trotzdem auf. Ich ließ meinen Blick über verschiedenste Darstellungen nackter Körper schweifen, die verschiedenste Dinge mit ihren Intimteilen machten. Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass man Mumus und Pimmel auf diese Weise nutzen konnte, aber selbst in diesem jungen Alter wusste ich bereits, dass die Leute sie gerne berührten.
» Schau dir das mal an«, sagte ich zu Jenny Penny und hielt ihr eines der Bilder vor die Nase. Aber sie sah nicht hin. Sie lachte auch nicht. Sagte nicht einmal etwas. Sie machte stattdessen etwas ziemlich Unerwartetes. Sie brach in Tränen aus und lief davon.
Ich fand sie zusammengekauert im Schatten des Mandelbaums etwa auf halbem Weg die Gasse hinunter, wo wir mal eine tote Katze gefunden hatten, vermutlich vergiftet. Im Zwielicht wirkte sie verloren und verwaist, umgeben vom Geruch von Urin und Kot, der sich mit der warmen Luft verschworen hatte. Alle benutzten die Gasse als Toilette oder Müllhalde für Sachen, die nicht länger nützlich waren. Ich setzte mich neben sie und strich ihr das Haar aus dem Mund und von der bleichen Stirn.
» Ich werde ausreißen«, sagte sie.
» Wohin denn?«
» Atlantis.«
» Wo ist denn das?«
» Das weiß keiner so genau«, erklärte sie, » aber ich finde es heraus, und dann lauf ich dahin weg, und dann machen sie sich Sorgen.« Sie sah mich an, und ihre Augen lösten sich in ihren tiefen, schattigen Höhlen fast auf.
» Komm doch mit«, bat sie.
» Okay, aber nicht vor nächster Woche«, sagte ich (wohl wissend, dass noch ein wichtiger Zahnarzttermin vor mir lag). Sie war einverstanden, und wir lehnten uns mit dem Rücken an den Zaun und atmeten den Geruch des noch ziemlich frischen Teeranstrichs ein. Jenny Penny wirkte ruhiger.
» Atlantis ist besonders, Elly. Ich habe erst neulich davon gehört. Es wurde schon vor einigen Jahren von einer riesigen Flutwelle verschlungen, und es ist ein magischer Ort mit magischen Menschen. Eine untergegangene Zivilisation, aber wahrscheinlich noch lebendig«, sagte sie. Ich war wie gebannt von der Gewissheit in ihrer Stimme; sie war geradezu hypnotisierend, ja übernatürlich. Ließ alles möglich erscheinen.
» Dort gibt es wunderschöne Gärten und Bibliotheken und Universitäten, und alle sind schlau und schön, und sie sind friedlich und helfen einander, und sie haben Superkräfte und kennen die Geheimnisse des Kosmos. Dort können wir alles machen, Elly. Es ist unsere Stadt, und wir werden richtig glücklich sein.«
» Und alles, was wir tun müssen, ist, es zu finden?«, fragte ich.
» Das ist alles«, sagte sie, als wäre das die einfachste Sache der Welt. Ich musste skeptisch dreingeschaut haben, denn plötzlich rief sie: » Schau mal!« und führte den Zaubertrick mit der Fünfzigpencemünze vor, die aus ihrem pummeligen Arm zum Vorschein kam.
» Hier«, sagte sie und reichte mir die Münze.
Ich hielt sie in der Hand. Sie war blutig und warm, als wäre sie ein Teil von ihr, und ich rechnete halb damit, dass sie sich plötzlich auflösen und einfach in dieser seltsamen Nacht verschwinden würde.
» Vertraust du mir jetzt?«, fragte sie.
Und ich sagte Ja, während ich auf die seltsame Münze mit dem noch seltsameren Datum starrte.
Meine Mutter blieb acht Tage länger weg als damals, als man ihr den Knoten entfernt hatte. Nancy hatte sie mit nach Paris genommen. Dort hatten sie in St-Germain-des-Prés gewohnt und Gérard Dépardieu getroffen. Sie kam mit allerlei Taschen und Klamotten und neuen Schuhen zurück und wirkte zehn Jahre jünger. Und als sie vor meinem Vater stand und sagte: » Und?«, wussten wir sofort, dass er verloren hatte. Er sagte gar nichts, aber nach diesem Nachmittag sahen wir das Auto nie wieder. Tatsächlich konnten wir nicht einmal mehr über das Auto sprechen, ohne meinen Vater in tiefe Scham zu stürzen, und ohne dass er sich in einen urplötzlichen, selbstgewählten Gedächtnisverlust flüchtete.
Meine Eltern schrieben Weihnachtskarten im Esszimmer, und gelangweilt von mir selbst und der fehlenden Gesellschaft
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