Als Hitler das rosa Kaninchen stahl
heraus, daß fast niemand Hitler gewählt hat, und dann können wir wieder nach Hause fahren, wie Onkel Julius vorausgesagt hat.«
»Möglich«, sagte Papa, aber es war ihm anzusehen, daß er nicht davon überzeugt war.
Die Dampferfahrt am Nachmittag gefiel allen sehr.
Anna und Max blieben trotz des kalten Windes auf dem offenen Deck und beobachteten den Verkehr auf dem See. Außer den Dampfern gab es private Motorboote und sogar ein paar Ruderboote. Ihr Dampfer pufferte am Seeufer entlang, von einem Dorf zum andern. Diese Dörfer sahen alle reizend aus mit ihren sauberen Häusern, die sich zwischen Wälder und Berge duckten. Immer wenn der Dampfer in die Nähe eines Landungssteges kam, tutete er laut, damit jeder im Dorf wußte, daß er kam, und jedesmal stieg eine ganze Menge Leute aus und ein. Nach etwa einer Stunde kreuzte der Dampfer plötzlich quer über den See zu einem Dorf am anderen Ufer und fuhr dann nach Zürich zurück. Während sie durch den Lärm von Autos und Bussen zum Hotel zurückgingen, fühlte Anna sich sehr müde, und ihr war wieder schwindlig.
Sie war froh, wieder im Hotelzimmer zu sein, das sie mit Max teilte. Sie hatte immer noch keinen Hunger, und Mama fand, sie sähe so müde aus, daß sie sie sofort ins Bett steckte. Sobald Anna den Kopf aufs Kissen legte, hatte sie das Gefühl, daß ihr Bett in die Dunkelheit davonsegle. Es machte dabei ein tuckerndes Geräusch, das von einem Boot herkommen konnte, von einem Zug oder aus ihrem eigenen Kopf.
Als Anna am Morgen die Augen aufschlug, kam es ihr so vor, als ob es viel zu hell im Zimmer sei. Sie schloß die Augen wieder und blieb ganz still liegen.
Vom andern Ende des Zimmer hörte sie Gemurmel und ein Rascheln, das sie sich nicht erklären konnte.
Es mußte schon sehr spät sein, und sicher waren alle schon auf.
Sie machte vorsichtig die Augen wieder auf, und diesmal hob und senkte sich die Helligkeit und ordnete sich schließlich zu dem Raum, den sie kannte.
Max saß immer noch im Schlafanzug in dem andern Bett, und Papa und Mama standen neben ihr. Papa hielt eine Zeitung in der Hand, und von ihr war das raschelnde Geräusch gekommen. Sie sprachen leise miteinander, denn sie dachten, Anna schliefe noch.
Dann schwankte der Raum wieder, und es war Anna, als triebe sie davon, während die Stimmen weiterklangen.
Jemand sagte: »...Sie haben also die Mehrheit...«
Dann verstummte die Stimme und eine andere (oder war es dieselbe Stimme?) sagte: »...Genug Stimmen, um zu tun, was er will...« Schließlich hörte sie unverkennbar Max in ganz unglücklichem Ton erklären:
»Wir gehen also nicht nach Deutschland zurück... wir gehen also nicht nach Deutschland zurück... wir gehen also nicht nach Deutschland zurück...« Hatte er es wirklich dreimal gesagt? Anna öffnete mit großer Anstrengung die Augen und rief »Mama«. Sofort löste sich eine Gestalt von der Gruppe und kam auf sie zu und plötzlich war Mamas Gesicht ganz nah über ihrem. Anna sagte noch einmal »Mama!« und dann weinte sie plötzlich, weil ihr der Hals so weh tat.
Dann nahm sie alles nur noch undeutlich wahr.
Mama und Papa standen neben ihrem Bett und betrachteten ein Thermometer. Papa hatte seinen Mantel an. Er mußte eigens ausgegangen sein, um ein Thermometer zu kaufen. Irgend jemand sagte: »Fast vierzig Grad«, aber es konnte nicht ihre Temperatur sein, von der sie redeten, denn sie erinnerte sich nicht, daß man sie bei ihr gemessen hatte.
Als sie das nächste Mal die Augen aufmachte, stand da ein Mann mit einem Bärtchen und sah sie an.
Er sagte: »Nun, mein Fräulein«, und lächelte, und während er lächelte, hoben sich seine Füße vom Boden, und er flog oben auf den Schrank, wo er sich in einen Vogel verwandelte, der »Influenza« krächzte, bis Mama ihn aus dem Fenster hinausscheuchte.
Dann war es plötzlich Nacht, und sie bat Max, ihr etwas Wasser zu holen, aber Max war nicht da. In dem anderen Bett lag Mama. Anna fragte: »Warum schläfst du in Maxens Bett?« Mama sagte: »Weil du krank bist«, und Anna war sehr froh, denn wenn sie krank war, so bedeutete das, daß Heimpi kommen würde, um sie zu pflegen. Sie bat: »Sag Heimpi...«, aber dann war sie zu müde, um sich daran zu erinnern, was sie noch hatte sagen wollen, und als sie dann wieder die Augen aufmachte, war der Mann mit dem Bärtchen wieder da, und sie mochte ihn nicht, weil er Mama aufregte, indem er immer wieder murmelte:
»Komplikationen.« Er hatte irgend etwas mit Annas Hals gemacht,
Weitere Kostenlose Bücher