Als Hitler das rosa Kaninchen stahl
anderes war ungewohnt, aber sie konnte sich nicht darüber klar werden, was es war. Das Zimmer war dämmrig. Nur am Tisch, wo Mama gewöhnlich saß, brannte Licht, und Anna glaubte, ihre Mutter hätte vergessen, es auszuknipsen, als sie zu Bett ging. Aber Mama war nicht zu Bett gegangen. Sie saß immer noch neben Papa, genauso wie sie dagesessen hatte, bevor Anna einschlief. Papa hatte immer noch seine Hand auf Mamas Hand liegen, und in der anderen Hand hielt er den zusammengefalteten Briefbogen.
»Hallo Mama, hallo Papa«, rief Anna. »Mir ist so komisch.« Mama und Papa kamen sofort an ihr Bett, und Mama legte ihr die Hand auf die Stirn. Dann steckte sie Anna das Thermometer in den Mund. Als sie es herausnahm, schien sie das, was sie sah, nicht glauben zu können. »Kein Fieber mehr!« sagte sie.
»Zum erstenmal seit vier Wochen kein Fieber mehr!«
»Das ist wichtiger als alles andere«, sagte Papa und knüllte den Brief zusammen.
Von da an wurde es Anna rasch besser. Das fette Schweinchen, das magere Schweinchen, Fräulein Lambeck und alle anderen schrumpften allmählich, und ihr Hals tat nicht mehr weh. Anna fing wieder an zu essen und zu lesen. Max kam und spielte Karten mit ihr, wenn er nicht gerade mit Papa weggegangen war, und bald durfte sie ein Weilchen aufstehen und in einem Sessel sitzen. Mama mußte ihr bei den paar Schritten durchs Zimmer helfen, aber sie war sehr glücklich, in der warmen Sonne am Fenster sitzen zu können.
Draußen war der Himmel blau, und Anna sah, daß die Leute auf der Straße keine Mäntel trugen. Auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig verkaufte eine Frau an einem Stand Tulpen, und der Kastanienbaum an der Ecke stand schon in vollem Laub. Es war Frühling. Sie war überrascht, wie sich alles während ihrer Krankheit verändert hatte. Die Leute auf der Straße schienen das Frühlingswetter zu genießen, und ein paar kauften Blumen an dem Stand. Die Frau, die die Tulpen verkaufte, war rund und dunkelhaarig und sah ein bißchen Heimpi ähnlich.
Plötzlich fiel Anna etwas ein. Heimpi hatte zwei Wochen nach ihrer Abreise aus Deutschland zu ihnen kommen sollen. Jetzt war schon mehr als ein Monat vergangen. Warum war sie nicht hier? Anna nahm sich vor, Mama zu fragen, aber Max kam als erster herein, also erkundigte sie sich bei ihm.
Ihr Bruder machte ein erschreckendes Gesicht.
»Willst du wieder ins Bett zurück?« fragte er.
»Nein«, sagte Anna entschieden.
»Also«, sagte Max, »ich weiß nicht, ob ich es dir sagen darf, aber während du krank warst, ist allerhand geschehen.«
»Was?« fragte Anna.
»Du weißt, daß Hitler die Wahl gewonnen hat«, sagte Max, »Nun, er hat sehr bald darauf die Regierung übernommen, und es ist genauso gekommen, wie Papa erwartet hat - niemand darf ein Wort gegen Hitler sagen. Wer sich nicht daran hält, wird ins Gefängnis geworfen.«
»Hat Heimpi etwas gegen Hitler gesagt?« fragte Anna.
Sie sah Heimpi schon im Gefängnis.
»Nein, natürlich nicht«, sagte Max. »Aber Papa. Er tut es immer noch. Und natürlich darf niemand in Deutschland das, was er schreibt, drucken. Also verdient Papa kein Geld, und wir können es uns nicht mehr leisten, Heimpi ihren Lohn zu zahlen.«
»Ich verstehe«, sagte Anna. Und nach einer Pause fügte sie hinzu: »Wir sind also arm?«
»Ich glaube, ein bißchen«, sagte Max. »Nun will Papa versuchen, statt dessen in Schweizer Zeitungen zu schreiben - dann könnte es besser werden.« Er stand auf und wollte gehen. Anna sagte schnell: »›Ich denke, Heimpi macht sich gar nichts aus Geld. Wenn wir ein kleines Haus hätten, würde sie bestimmt gern kommen und für uns sorgen, selbst wenn wir ihr nicht viel bezahlen könnten.«
»Ich denke auch, aber da ist noch etwas anderes«, sagte Max. Er zögerte, fügte dann aber hinzu: »Es hätte keinen Zweck, ein Haus zu mieten, denn wir haben keine Möbel.«
»Aber...«, sagte Anna.
»Die Nazis haben alles geklaut«, erklärte ihr Max.
»Man nennt das ›Konfiszierung des Eigentums‹. Papa hat vorige Woche einen Brief bekommen.« Er mußte lachen. »Es war beinahe wie in einem dieser unmöglichen Theaterstücke, wo dauernd Leute mit schlechten Nachrichten auf die Bühne gestürzt kommen. Und dazu warst du noch drauf und dran, ins Gras zu beißen...«
»Ich wollte gar nicht ins Gras beißen!« sagte Anna empört.
»Nein, natürlich nicht«, sagte Max, »aber dieser Schweizer Doktor hat eine düstere Phantasie. Willst du jetzt wieder ins Bett?«
»Ich glaube,
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