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Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

Titel: Als Hitler das rosa Kaninchen stahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Kerr
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ja«, sagte Anna. Sie fühlte sich ziemlich schwach, und Max half ihr quer durchs Zimmer.
    Als sie wieder sicher im Bett lag, sagte sie: »Max, diese ... diese ›Konfiszierung des Eigentums‹, oder wie man es nennt - haben die Nazis alles mitgenommen. Auch unsere Sachen?«
    Max nickte.
    Anna versuchte, es sich vorzustellen. Das Klavier war weg ... die Vorhänge im Eßzimmer mit dem Blumenmuster ... ihr Bett ... alle Spielsachen, auch das rosa Kaninchen. Es hatte schwarze, aufgestickte Augen - die Glasaugen waren schon vor Jahren ausgefallen - und es sackte so reizend zusammen, wenn man es auf die Pfoten stellte. Das Fell war, obgleich nur noch verwaschen rosa, so weich und vertraut gewesen. Warum hatte sie nur, statt ihres lieben rosa Kaninchens diesen blöden Wollhund mitgenommen? Das war ein arger Fehler gewesen, und sie würde ihn nie wieder gut machen können.
    »Ich wußte immer, daß wir die Spiele-Sammlung hätten mitnehmen sollen«, sagte Max. »Hitler spielt wahrscheinlich im Augenblick Dame damit!«
    »Und hat mein rosa Kaninchen lieb!« sagte Anna und lachte. Aber gleichzeitig liefen ihr Tränen über die Wangen.
    »Na, wir haben Glück, daß wir überhaupt hier sind«, sagte Max.
    »Wie meinst du das?« fragte Anna.
    Max vermied es, sie anzusehen und schaute zum Fenster hinaus. »Papa hat es von Heimpi erfahren«, sagte er mit gespieltem Gleichmut, »am Morgen nach den Wahlen kamen die Nazis in unser Haus. Sie wollten uns die Pässe abnehmen.«

6
    Sobald Anna kräftig genug war, zogen sie aus dem teuren Hotel aus. Papa und Max hatten ein Gasthaus in einem der Dörfer am See gefunden. Es hieß Gasthof Zwirn nach dem Eigentümer Herrn Zwirn und lag ganz nahe an der Landebrücke; es gab einen gepflasterten Hof und einen Garten, der sich zum See hinunter erstreckte. Die Leute kamen meistens zum Essen und Trinken hierher, aber Herr Zwirn hatte auch ein paar Zimmer zu vermieten, und diese waren recht billig. Mama und Papa teilten sich ein Zimmer und Max und Anna ein anderes, so wurde es noch billiger.
    Unten gab es einen großen behaglichen Speisesaal, der mit Hirschgeweihen und Edelweißsträußchen dekoriert war. Aber als das Wetter milder wurde, tauchten Tische und Stühle im Garten auf, und die Wirtin servierte die Mahlzeiten unter den Kastanien am Ufer. Anna gefiel es bei Zwirns.
    An den Wochenenden kamen die Musikanten aus dem Dorf und spielten manchmal bis spät in die Nacht. Man konnte der Musik lauschen und durch das Laub hindurch das Glitzern des Wassers und die vorbeigleitenden Dampfer beobachten. Wenn es dunkel wurde, drehte Herr Zwirn an einem Schalter, und in den Bäumen gingen kleine Lämpchen an, so daß man sehen konnte, was man aß. Auch auf den Dampfern entzündete man bunte Laternen, damit die Fahrzeuge einander erkennen konnten. Manche dieser Lichter waren gelb, aber die schönsten waren von einem tiefen, leuchtenden Blauviolett. Immer wenn Anna eins dieser magischen blauen Lichter gegen den dunkelblauen Himmel und dessen mattere Spiegelung im dunklen See sah, war es ihr, als habe sie ein kleines Geschenk erhalten.
    Die Zwirns hatten drei Kinder, die barfuß herumliefen, und als Annas Beine sich nicht mehr wie Watte anfühlten, gingen Max und sie mit ihnen und erkundeten die Umgebung.
    Da gab es Wälder und Bäche und Wasserfälle, Straßen, die von Apfelbäumen gesäumt waren und überall wilde Blumen. Manchmal kam auch Mama mit ihnen, weil sie nicht gern allein im Gasthaus bleiben wollte. Papa fuhr fast jeden Tag nach Zürich, um mit den Herausgebern der Schweizer Zeitungen zu verhandeln.
    Zwirns Kinder sprachen wie alle Einwohner des Dorfes Dialekt, und Anna und Max konnten sie zu Anfang nur schwer verstehen. Aber sie lernten es bald, und Franz, der älteste, zeigte Max, wie man fischt - nur fing Max nie etwas. Franzens Schwester Vreneli lehrte Anna, wie man am Zürichsee Kästchen hopsen spielt.
    In dieser freundlichen Umgebung kam Anna bald wieder zu Kräften, und eines Tages verkündete Mama, daß es jetzt Zeit für die beiden sei, wieder zur Schule zu gehen. Max würde die höhere Knabenschule in Zürich besuchen. Er würde mit dem Zug fahren.
    Max wäre zwar lieber mit dem Schiff gefahren, aber mit der Eisenbahn ging es schneller. Anna sollte mit den Zwirn-Kindern in die Dorfschule gehen, und da sie und Vreneli ungefähr gleichaltrig waren, würden sie in dieselbe Klasse kommen.
    »Du wirst meine beste Freundin sein«, sagte Vreneli. Sie hatte sehr lange, sehr dünne mausfarbene

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