Als Hitler das rosa Kaninchen stahl
fragte.
»Ich bringe Sie nach oben«, sagte sie, ohne die Concierge zu beachten, und die Concierge reichte ihr mit beleidigtem Schweigen einen Brief. Anna warf einen Blick darauf, und ihr Herz schlug plötzlich schneller, als sie die englische Briefmarke erkannte.
Während der ganzen Fahrt im Aufzug konnte sie nur daran denken, was in dem Brief stehen mochte, und sie erinnerte sich erst an Papas Besucher, als dieser sie ansprach.
»Du mußt die Anna sein«, sagte er, und sie nickte.
Er sah schäbig aus und hatte eine traurige Stimme.
»Papa«, rief Anna, als sie die Wohnung betraten, »ich habe Brötchen zum Frühstück gekauft, und ich habe einen Brief, und hier ist jemand, der dich besuchen will.«
»Jemand? Um diese Zeit?« sagte Papa, der aus seinem Zimmer kam und seinen Schlips zurechtzog.
Er führte den Besucher ins Eßzimmer, und Anna folgte mit dem Brief in der Hand.
»Guten Tag, Herr...«
»Rosenfeld«, sagte der Mann mit einer leichten Verbeugung. »Ich war früher Schauspieler in Berlin, aber Sie kennen mich nicht. Nur kleine Rollen, wissen Sie.« Er lächelte und zeigte dabei unregelmäßige gelbe Zähne. Dann fügte er scheinbar nebenbei hinzu:
»Ich habe einen Neffen in der Konditorbranche.«
»Papa...« sagte Anna und hielt ihm den Brief hin, aber Papa sagte: »Später.«
Es schien Herrn Rosenfeld Schwierigkeiten zu machen, zu sagen, weshalb er gekommen war. Seine traurigen Augen schweiften im Eßzimmer umher, während er immer wieder ansetzte, seine Einleitung dann aber wieder verwarf. Schließlich steckte er die Hand in die Tasche und zog ein kleines Päckchen in braunem Papier heraus.
»Ich bringe Ihnen das hier«, sagte er und reichte es Papa. Papa wickelte es aus. Es war eine Uhr, eine alte silberne Uhr, und irgendwie kam sie Anna bekannt vor.
»Julius«, rief Papa.
Herr Rosenfeld nickte traurig. »Ich bringe schlechte Nachrichten.«
Onkel Julius war tot.
Während Mama Herrn Rosenfeld Kaffee einschenkte und dieser gedankenverloren an einem von Annas Croissants knabberte, erzählte er ihnen, wie Onkel Julius gestorben war. Er war vor ungefähr einem Jahr von seinem Posten als Kurator des Berliner Naturwissenschaftlichen Museums abgesetzt worden.
»Aber warum?« fragte Mama.
»Sie werden es doch wohl wissen«, sagte Herr Rosenfeld, »er hatte eine jüdische Großmutter.«
Danach hatte Onkel Julius nicht mehr als Naturwissenschaftler arbeiten können, sondern hatte eine Stelle als Handlanger in einer Fabrik gefunden. Er war aus seiner Wohnung in ein billiges Zimmer gezogen, und dort war er mit Herrn Rosenfeld bekannt geworden, der im Nebenzimmer wohnte. Trotz aller Schwierigkeiten war Onkel Julius in dieser Zeit noch ganz heiter gewesen.
»Er ... fügte sich in die Umstände, nicht wahr?«
sagte Herr Rosenfeld. »Ich wollte damals schon zu meinem Neffen nach Paris ziehen, und ich sagte zu ihm: ›Kommen Sie mit - wir kommen beide in der Konditorbranche unter.‹ Aber er wollte nicht. Er schien zu glauben, daß die Lage in Deutschland sich ändern müsse.«
Papa nickte, er dachte an Onkel Julius in der Schweiz.
Herr Rosenfeld und Onkel Julius hatten viel miteinander geredet, und Onkel Julius hatte ihm viel von Papa und seiner Familie erzählt. Ein paarmal hatte Herr Rosenfeld ihn in den Zoo begleitet, wo er immer seine Sonntage verbrachte. Obgleich Onkel Julius so wenig Geld hatte, brachte er es doch immer fertig, den Affen Erdnüsse und den anderen Tieren irgendwelche Reste mitzubringen, und Herr Rosenfeld hatte sich gewundert, wie sie an die Gitter gestürzt kamen, sobald sie ihn erblickten.
»Es war nicht nur das Füttern«, sagte er, »es war eher eine Art von Güte, die sie an ihm wiedererkannten.«
Wieder nickte Papa...
Während des Herbstes war Onkel Julius sogar nach Feierabend in den Zoo gegangen. Sein ganzes Leben kreiste jetzt um die Tiere. Es gab einen Affen, der ihm erlaubte, ihn durch das Gitter hindurch zu streicheln...
Und dann, kurz vor Weihnachten, war der Schlag gekommen, Onkel Julius hatte einen offiziellen Brief bekommen, in dem sein freier Eintritt in den Zoo widerrufen wurde. Es wurde kein Grund angegeben.
Die Tatsache, daß er eine jüdische Großmutter hatte, genügte.
Danach hatte Onkel Julius sich verändert. Er konnte nicht schlafen und aß nicht richtig. Er sprach nicht mehr mit Herrn Rosenfeld, sondern verbrachte die Sonntage in seinem Zimmer und starrte zu dem gegenüberliegenden Dach hinüber, wo die Spatzen sich tummelten. Schließlich
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